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Patienten unserer Station


Vica

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Wir sind eine Station, deren Patientenklientel man leicht zusammenfassen kann: Wahnhafte Psychosen, Schizophrenie, Abhängigkeitserkrankungen. Diese Störungsbilder werden im (Fern-)Studium zwar gut durchgekaut, trotzdem bestehen hier wenig praktische Berührungspunkte. Meine Erfahrung ist, dass im Studium meistens Depressionen und Angsterkrankungen mehr Raum kriegen,  weniger die schweren Störungen; vielleicht, weil man sie ganz gut erforschen kann, die Patienten sind ja zugänglich. Meine Kollegen von den Präsenzunis teilen den Eindruck. 

Bei Wahn sind recht viel Stigma und Vorurteile im Umlauf. Die meisten haben den Joker, Amokläufer oder irgendwelche Bösewichte aus Videospielen im Kopf. Damit wird oft völlige Unzurechnungsfähigkeit und Unberechenbarkeit verbunden. Ich war auch nicht sicher, was mich diesbezüglich erwarten würde und hätte mir das wirklich anders gedacht. Am meisten überraschte mich, dass diese Patienten ganz normale Tagesabläufe haben. Sie stehen, wie du und ich, zum Frühstücken auf, helfen manchmal den Pflegern beim Kochen oder spielen Tischfußball mit ihnen. Gehen früh ins Bett, haben Hobbies wie Lesen, Zeichnen, Klavierspielen. Sie sagen Guten Morgen und Tschüss, viele sind Absprachefähig. Manche haben auch ein kleines Projekt, z.B. sich um die Pflanzen der Station zu kümmern oder etwas Kreatives. Sie gehen ganz normal zur Gruppentherapie oder den 50-minütigen Therapiegesprächen. Natürlich befinden sie sich aber auch unter Medikation. 

Trotz allem haben sie in erster Linie eine falsche Vorstellung von der Realität, von der man sie auch so nicht abbringen kann. Das heißt wiederum nicht, dass sie permanent schreien, jemanden angreifen oder den Kopf gegen die Wand hämmern. Stattdessen haben sie ein permanentes Misstrauen innewohnen, das über Verschwörungstheorien oder normale Kritik weit hinausgeht:  Dazu gehört z.B. Angst, Sorge und Stress, von der Regierung oder Außerirdischen überwacht zu werden. Vieles wird falsch interpretiert und dann werden darin "Zeichen" gesehen. Rechtschreibfehler in Behördenbriefen seien z.B. Versuche der Behörden, die Person zu diffamieren. Manche glauben, dass die Betäubungsspritze beim Zahnarzt neulich Nanobots enthalten habe, die jetzt den Körper übernehmen. Natürlich kann Wahn auch sehr bizarre Formen haben, und fast immer hat es etwas mit Verfolgung oder angeblicher feindlicher Haltung gegen den Patienten zu tun. 

Erstaunlich häufig (unabhängig von Geschlecht, Bildungsgrad, Alter und Herkunft) wird der Teufel gesehen. Es ist auch erstaunlich, wie sehr sich die Beschreibungen ähneln. Er kommt meistens nachts und kündigt sich mit komischen Geruch und Pferdehufen an. Viele unserer Patienten haben dann richtig Todesangst vor der kommenden Nacht. Sie verstecken sich dann im Schrank oder unter der Decke. 
Der Teufel kann aber auch die Gestalt eines Menschen annehmen, meistens Autoritätspersonen wie der Noch-Chefarzt. Manchmal aber auch: Blonde Menschen. Traurig ist, wenn Mütter kommen, die z.B. in ihren kleinen Kindern den Teufel erkannt haben. Oder ihren Partnern, besten Freunden. 
Einige sitzen bei mir und berichten darüber völlig ruhig, als würden sie sich über einen unliebsamen Sachbearbeiter reagieren. 

Natürlich kann eine wahnhafte Psychose auch komplett aus dem Ruder laufen. Indem manche glauben, dass sie komplett in der Hölle sind und dann von Dämonen umgeben sind. Diese werden auch angegriffen. Bei uns ist es aber extrem selten, und meist ein Zeichen von schlechter/falscher Medikation. Aber dennoch ist generell Vorsicht geboten bei Menschen mit Realitätsverzerrung. Eine gewisse Gefahr bleibt; da diese Patienten oft sehr fassadär sind, ist Wahn nicht oft zu erkennen. Es braucht einen echten Spezialisten (unser Chefarzt ist da 1A drin!), um ihn zu erkennen. Darum ist das Abklären von Eigen- und Fremdgefährdung bei uns auf Station großgeschrieben. Dazu arbeiten wir auch mit der Justiz zusammen, von Richtern haben wir hier tagtäglich Besuch. 

Kann man diese Menschen noch psychotherapeutisch erreichen?
Ja, in der Tat gibt es Gesprächsmodelle für solche Patienten. Es geht dann nicht darum, alles zu entkräften; andererseits darf man sie natürlich auch nicht validieren. Absolutes Verständnis für die empfundenen Ängste steht im Vordergrund. Vielen reicht es schon, dass man ihnen mal wieder zuhört. Die Verwandten und ihre restliches Umfeld hat das längst aufgegeben, bei einigen schon seit Jahren (auch das ist irgendwo verständlich). Dennoch brauch die Therapie dann eine Richtung - ein roter Faden ist wichtig, den man aus der Biographie und den gegenwärtigen Problemlösestrategien herausarbeiten muss. Zunächst verbringt man auch einfach positive Zeit zusammen. Dann finde ich es gut, wenn man Ressourcenförderung betreibt, also die Talente und positiven Aspekte des Charakters findet und herausstellt (denen wird oft keine Beachtung geschenkt). Das Zusammensein in der Gruppe hilft auch vielen Patienten. Solche Gruppen muss man allerdings gut führen

Für manche Patienten kann man nicht viel tun; zu lange und zu tief sitzen die Probleme. Ich arbeite dann mit dem Sozialarbeiter zusammen, z.B. wenn es um eine Heimunterbringung geht, da gibt es Auflagen, denen der Patient nicht nachkommt. Ich manche dann mit ihm Ambivalenzarbeit und wir versuchen, die guten Seiten einer Heimunrerbringung zu finden. Oder ich versuche, ihnen die Angst vor dem Chefarzt oder Misstrauen gegen Tabletten zu nehmen. Dazu gehört immer die Betonung, dass alles ja auch nur ein Versuch ist, kein Zwang, und man selbst die Entscheidung hat. Letztere Erkenntnis bringt das Eis fast immer zum Brechen. 

Fazit: Ich arbeite sehr gerne mit diesen Menschen zusammen und möchte momentan nirgendwo anders hin. Ich fand bisher jeden einzigartig und bereichernd. Es gibt natürlich auch mal unangenehme Patienten, das ist klar. 

Trotzdem: Keine Angst vor der Wahn/Psychosenstation, solltet ihr im Rahmen des Fernstudiums die Möglichkeit bekommen, da ein Praktikum zu machen. :) 

Bleibt gesund & haltet zusammen,

LG

Feature Foto: Ivan_Siarbolin/pexels.com  
 

1 Kommentar


Empfohlene Kommentare

Vielen Dank für diesen spannenden und informativen Einblick in Deine praktische Arbeit - besonders, wenn man noch tief im studentischen Theoriewust steckt ist das sehr hilfreich!

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