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Verzweifelt gesucht: Selbstfürsorge


Vica

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Im Fernstudium ist mir eines ein wenig abhanden gekommen: Die Relation. Erst langsam, dann aber immer bestimmter fiel es mir schwerer, einzuschätzen, was normal ist: Wie viel Kapitel lesen am Tag? Wie viele Notizen machen am Tag? Wie viel Karteikarten schreiben? Und wie lange darf das dauern? Wie viel bis zum Ende der Woche gelernt haben? Wie viel in welcher Zeit in den Kopf hämmern? Wie viel "Lücke" kann man sich so erlauben? Ist es normal, zur Klausur zu fahren und nicht alles 100% drauf zu haben? Ist die Note X für Fach Y okay? (Alle anderen scheinen wesentlich besser zu punkten - oder melden sich ganz einfach nur die Überflieger und die anderen schweigen?) 
Und so weiter eben. 
Man hat ja nicht täglich dutzend Leute um sich herum, mit denen man sich vergleichen kann. Nur sporadisch in den Präsenzphasen fällt auf, wo andere so stehen und wo man sich selbst einordnen kann. 
Wenn ich richtig drüber nachdenke, hat es da angefangen, insbesondere im Master. Die OU hat einen beim Thema Organisation des Lernens noch sehr gut an die Hand genommen, in der es einen wöchentlichen Plan gab, was diese Woche auf dem Programm stand. Hielt man den Plan nicht ein, wusste man passgenau, was man nachholen konnte. Im Master gab es das nicht, und rückblickend nahm das Unglück dann hier seinen Lauf. Meine selbst aufgestellten Lernpläne verliefen alle etwas schräg neben der Realität und waren kaum einzuhalten. Folge: Frust, schlechtes Gewissen, Selbstkasteiung.

Der absolute Gipfel, was das angeht, war die Masterarbeit, wo ich Tage und Nächte durchschrieb und zum Teil nur 1-2 Stunden schlief. Mit dem plötzlichen Druckabfall nach der Abgabe konnte ich dann kaum umgehen und ich war echt ein Wrack. 

Es gab schon Leute um mich herum, die mich gewarnt haben, dass es so nicht optimal läuft, mir selbst fiel das aber nicht direkt auf und wie es dann so ist, man weiß ja alles besser 😜. Natürlich merkt man die Energie, die fehlt, aber in meinem Fall war ich überzeugt davon, dass es keinen Anspruch darauf gibt, zu "faulenzen", wie ich damals das Haushalten mit Energie nannte. Immerhin hatte ich mir den Weg brutal hart erkämpft, und nun ,,rumzujammern" (=locker bleiben, krankschreiben lassen und alles was mit Nicht-Lernen/Arbeit zu tun hatte) erschien mir Fehl am Platz. 

 

Das zog sich ungünstigerweise im Klinikjahr und während der Ausbildung zur PP/KJP so fort. Obwohl es Menschen um mich herum gibt, die mich ständig bremsen und warnen. 

Es brauchte ein paar gesundheitliche Einbußen, gutes Zureden von außen durch Familie, Arbeitskollegen und Ausbildungsteilnehmer sowie eine zwangsläufig unlösbare Aufgabe (-> Stimmung auf Station), dass das Ding mit der Selbstfürsorge bei mir ankam. 
Ebenfalls ausschlaggebend war der Zusammenbruch eines Ausbildungsteilnehmers und Kollegen, der ein ähnliches Problem hatte. Der Schock darüber sitzt noch. 

Tja, was aber genau heißt Selbstfürsorge? Wikipedia definiert das so:
 

Zitat

Regelmäßige Selbstfürsorge ist sowohl für gesunde Menschen im Sinne der Gesundheitsförderung wichtig, als auch für Menschen mit körperlichen Beschwerden und Krankheit im Sinne von Prävention und Aufrechterhaltung der Lebensqualität.
https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstfürsorge 

 
Klingt gut :rolleyes:, und wenn man den Begriff auf YouTube eingibt hat man das Gefühl, dass damit gemeint ist: Yoga, Workouts in möglichst fechen Sportoutfits für Dinge wie "Optimaler Booty" usw., clean-eating gerechtes Vorkochen, trinken aus Flaschen mit Wasserstandsanzeige, Essen tracken, Meditation, Beauty-Einlagen am Tag usw. 
Nicht schlecht und sicher auch ein toller Ansatz - aber beim Anschauen bekomme ich persönlich noch mehr Stress als vorher, denn ich kann das so in meinen Alltag kaum einbauen. :64_zipper_mouth:

Aber alles ist ja individuell. 
In meinem Fall bedeutet Selbstfürsorge tatsächlich:

  • Arzttermine wieder wahrnehmen. Nicht denken, alles besser zu wissen, als der Arzt.
  • Extra-Arbeit ablehnen
  • Keine Vorwürfe machen lassen 
  • Sport, nicht zum Erreichen irgendwelcher Figur-Ziele, kastenförmige Hintern etc., sondern für: Kreislauf, Rücken, gegen Fehlhaltungen usw. 
  • Yoga hilft tatsächlich, gegen starke Verspannungen und Gedankenkreisen
  • Zuhause auch mal 5 gerade sein lassen bezüglich Haushalt und die Spülmaschine später ausräumen 
  • Die Uhr schlägt Feierabend: Griffel fallenlassen und nach Hause gehen. 
  • Gesünder essen, ebenfalls nicht für Figurziele, sondern erneut für Kreislauf und mentale Fitness (aber nicht, um diese dann wieder auf der Arbeit zu verbraten). 
  • Ein Seminar auch mal absagen, wenn man nicht mehr kann.
  • Wenn man krank ist, ist man krank. 
  • "Krank" ist man auch, bevor man tot umfällt. 
  • Wertschätzende Kontakte aufrecht erhalten. Menschen, die stets um Negatives kreisen, sich nur beschweren und empören meide ich eher (privat). 
  • Freimachen von allen Anspruchshaltungen 
  • Fehler machen dürfen 
  • Mehr Genuss im Alltag. Warum z.B. nicht mal 
  • Auf der Arbeit grenze ich Ziele ganz konkret ein. Es geht nur um die Patienten und nicht darum, die Stimmung auf Station (vor allem bei anderen Berufsgruppen) zu retten. 
  • Sich freuen auf die Dinge, die auf der Arbeit gut laufen. Das können allerkleinste Sachen sein. Ich freue mich z.B., dass ich einen Hintereingang gefunden habe, den ich mit meinem Master-Schlüssel aufschließen kann und über den ich die Station betreten kann, ohne an den Streithähnen am Haupteingang vorbei zu müssen. Oder schöne Pausen mit Kollegen. Kaffeetrinken mit denen, mit denen man sich gut versteht. Sich was vom Oberarzt erklären lassen (10 Minuten mit ihm ersetzen ein Semester Medizin 😉😉)
  • Außerdem suche ich mir Vorbilder, die selber auch gut mit ihren Kräften haushalten und trotzdem gefragt sind. Die ärztlichen Kollegen sind hier etwas besser als die psychologischen Kollegen. 
  • Dinge dürfen scheitern, länger dauern als geplant oder können scheiße bewertet werden und nicht jeder muss sie mögen. 
  • Schlussendlich das Wichtigste: Aushalten, dass andere einen deswegen doof finden (können). Das ist der fundamentalste Punkt und oft die Wurzel allen Übels. Der Harmonieanspruch, die Angst vor Konflikten und der Kampf gegen alles, was mit Ablehnung zu tun hat. Man sollte sich immer genau vor Augen halten, wo das herkommt. Dabei finde ich auch wichtig, bei seiner eigenen Herkunftsgeschichte den Umgang mit Strafen und Versagen kritisch zu hinterfragen. :11_blush:


Letztlich bin ich auch noch nicht zu 100% dort angekommen, die fauligen Prozesse immer gleich zu erkennen. Aber ich bin froh, dass ich eine Supervisorin habe (eine approbierte PP), die mit mir daran arbeitet. Es wäre schön, wenn man gerade beim Fernstudium auch so etwas hätte, denn gerade hier gibt es viele Fallstricke und unrealistische Leistungsansprüche an sich selbst, die schnell pathologisch werden können.  
 

Es ist schon deswegen nicht so leicht umzusetzen, weil nicht jeder Verständnis dafür haben wird, dass man selbstfürsorglich ist. Gerade wenn man vorher ein Schwarzes Loch für Arbeit und Vorwürfe aller Art war, werden es gewisse Kreise nicht sehr schätzen, wenn ihr auf einmal "Nein" sagt. Auch das muss nicht beunruhigen - eher sieht man vielleicht, wo der Hund begraben liegt.

Und natürlich ist alles eine Sache der Relation. Seine Kernarbeit muss man schon erledigen. Komplette Arbeitsverweigerung sitzt natürlich nicht drin 😅 Aber gerade unter den "Stars" unserer Klinik fällt mir auf, dass diese sehr gut beim Thema Selbstfürsorge unterwegs sind. Und dass muss ja einen Grund haben: Sie sind weniger gestresst und damit mental fitter, gesünder und auch ausgeglichener. 

Bleibt gesund & haltet zusammen (&haushaltet mit euren Kräften) 

LG

Feature Foto: Cedric Lim Ah Tock/pexels.com

5 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Schöner Beitrag und einfacher gesagt als getan. Ich glaube, das bleibt leider ein ewiger K(r)ampf ;).

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Ich glaube, ein Fernstudium bringt einen dazu, permanent die eigenen Grenzen zu überschreiten. Das geht eine gewisse Zeit gut, aber wenn man den Weg zu einem normalen Maß nicht findet, wird es irgendwann ungesund. Bei mir war der Bandscheibenvorfall der Nullpunkt. Trotzdem ist Selbstfürsorge praktisch eine Lebensaufgabe. 😉

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Ganz ehrlich, liebe Vica, ich hätte bei dem einen oder anderen Ex-Arbeitgeber eine vergleichbare Liste aufschreiben können (ein großes Problem war das Abschalten nach Feierabend UND vor den nächsten Diensten. Wenn ich Arbeit - Frei - Arbeit hatte, hat sich das für den Kopf immer noch wie 3 Dienste hintereinander angefühlt).

Da hätte ich mich noch so krumm biegen können - die Liste wäre kaum geschrumpft. Nichts hat da so sehr geholfen wie ein Arbeitgeberwechsel. Ich weiß, mitten in der Ausbildung ist das blöd, aber vielleicht ist dies der beste / einzige Ausweg (ein Familienmitglied hatte tatsächlich nach dem ersten Jahr PTA die damalige Klinik verlassen... und ist nun 2 Kliniken später am Ende der PTA).

 

Zitat

Wenn ich richtig drüber nachdenke, hat es da angefangen, insbesondere im Master. Die OU hat einen beim Thema Organisation des Lernens noch sehr gut an die Hand genommen, in der es einen wöchentlichen Plan gab, was diese Woche auf dem Programm stand. Hielt man den Plan nicht ein, wusste man passgenau, was man nachholen konnte. Im Master gab es das nicht, und rückblickend nahm das Unglück dann hier seinen Lauf. Meine selbst aufgestellten Lernpläne verliefen alle etwas schräg neben der Realität und waren kaum einzuhalten. Folge: Frust, schlechtes Gewissen, Selbstkasteiung.

Wenn ich es richtig im Kopf habe, warst du keine besonders gute Schülerin und hattest somit im Studium den Drang, es deinem Ego zu beweisen, sodass du tlw. auch mit 2en unzufrieden warst. Ich war auch kein guter Schüler, allerdings war mein einziger Anspruch im postsekundären Bildungsbereich mind. zu bestehen 😉 jetzt im Aufbaustudium schaue ich, dass ich nicht schlechter als im Bachelor (Endnote 2,2) abschneide. Aber selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, wird es nicht mal eine Auswirkung von 0,01% auf meine Zukunft haben. Was kann ich dir mitgeben? Ansprüche runterschrauben. Es muss, sollte und kann nicht alles perfekt sein und selbst wenn man mal scheitern sollte, auch sowas ist menschlich.

 

Zitat

Aushalten, dass andere einen deswegen doof finden (können)

Wichtiger Punkt. Wir dürfen / sollen andere auch mal enttäuschen. Auch das gehört zum Leben dazu.

(Soll ich das Thema in meinem nächsten Blog aufgreifen?) LG

 

 

PS:

Zitat

Sport, nicht zum Erreichen irgendwelcher Figur-Ziele, kastenförmige Hintern etc., sondern für: Kreislauf, Rücken, gegen Fehlhaltungen usw. 

Ich kriege jetzt Ärger von deinem Mann, aber das finde ich tatsächlich attraktiver und reizender als lediglich Sport zu treiben, um einem Barbie-Ideal hinterherzueifern - und sich am Ende bloß selbst dabei schadet.

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vor 14 Stunden schrieb FOM Alumni:

Nichts hat da so sehr geholfen wie ein Arbeitgeberwechsel. Ich weiß, mitten in der Ausbildung ist das blöd, aber vielleicht ist dies der beste / einzige Ausweg (ein Familienmitglied hatte tatsächlich nach dem ersten Jahr PTA die damalige Klinik verlassen... und ist nun 2 Kliniken später am Ende der PTA).

 


Es sind nur noch ganz wenige Wochen 😎 Der Schampus steht schon kühl!

 

Zitat

(Soll ich das Thema in meinem nächsten Blog aufgreifen?) LG


Unbedingt 😊

LG

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