Erstkontakt: Histrionisch
Frau H.* ist ein rundum bezauberndes Geschöpf, denke ich, als sie zum Kennenlerngespräch irgendwann in meinem Praxisraum steht. Nicht nur ich, auch die Sprechstundenhilfen, bei denen sie gerade die Karte einlesen lassen hat, sind sofort verzaubert. Noch hinterher schwärmen sie von ihrer Freundlichkeit.
Sie ist wahnsinnig gut gekleidet - eher als wenn sie gleich zum Sektempfang anstatt zum Facharzttermin geht. Wirklich toll: Die Fönfrisur, die abgestimmen Farben, alles sehr stilvoll. Sie ruft laut: ,,Hiiii!", als würde sie sich wirklich aus tiefstem Herzen freuen, hier zu sein. Ich muss gar nichts weiter erklären: Kokett schwebt sie über das Parkett und lässt sich dann auf der Couch nieder, wo sie die Schuhe auszieht und die Füße hochlegt. Das ist interessant, denn die meisten Patient:innen kommen zum Erststermin äußerst angespannt. Das bringt mit sich, dass sie oft auch verspannt sind. Viele lassen sogar Mantel und Schal an, ohne das zu merken.
So aber nicht Frau H.
Sie knackst erstmal mit den Fingerknöcheln und stößt einen zufriedenen Entspanntheitslaut aus. ,,Endlich bin ich hier!"
Ja, da hat sie schon nicht unrecht. Sie steht so etwa 8 Monate auf der Warteliste, das ist allerdings für unsere Verhältnisse trotzdem nicht sonderlich lang. Es sei toll hier, richtig gemütlich, entfährt es ihr.
Ich schaue nochmal in die Unterlagen, was der Psychotherapeut, der das Aufnahmegespräch mit ihr gemacht hat, festgestellt hat. Da steht was von Depression und Ängsten. Ein Klassiker, viele Patienten geben das an, haben aber in Wahrheit ganz was Anderes. Sie freut sich, als ich frage, was sie denn zu uns geführt hat. ,,Mir geht es gar nicht gut!" meint sie seltsamerweise lächelnd und kichernd, der Augenaufschlag dazu erinnert mich an alte Marilyn-Monroe-Filme. Sie habe Depressionen, Belastungen und Ängste und werde mit allem nicht mehr fertig, auch lebensmüde Gedanken seien schon dabei.
Nun, so seltsam ist das Verhalten gar nicht. Man nennt den Zustand Parathymie: Eine Störung des Gefühlsausdrucks, man lacht z.B. trotz starker Traurigkeit. Das habe ich bei manchen Traumapatienten in der Klinik gesehen. Manchmal passiert das auch im Rahmen von Selbstschutz oder Abstand zum Gefühl. Oder um zu symbolisieren: Ich komme schon klar. Aber ist das hier auch so?
Frau H. redet jedenfalls sehr viel und sehr gerne, stelle ich fest. Im Grunde ist meine Meinung auch gar nicht so gefragt. Ich komme gar nicht dazu, auszureden. Viel von dem, was sie erzählt, ist zwar schon belastend, aber nicht zwangsweise pathologisch. Sie scheint eher Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich zu haben, die keinem Krankheitsbild entsprechen. Klar ist das dann auch mal belastend - Streits mit meinem Umfeld würden mich auch in schlechte Stimmung versetzen. Aber das ist keine Depression. Und dass es unangenehm ist, der Person beim Einkaufen zu begegnen, keine Angststörung.
In ihre Erzählungen mischen sich oft auch Lästereien - so, wie man sie vielleicht einer guten Freundin erzählen würde.
Die nächsten Stunden mit Frau H. werden sehr interessant. Sie erlaubt sich so einige Freiheiten: Bringt unangemeldet ihren riesigen Hund mit oder verschiebt Termine oft. Es gesellen sich zudem ein paar Merkwürdigkeiten dazu, sie habe geklingelt, aber keiner habe aufgemacht etc.
Auch merke ich übertragungsmäßig, dass sie mich ziemlich auf kompetenz scannt. Ich werde gefragt, wie alt ich bin, ob ich Kinder hätte?
Auch das passiert alles sehr oft: Das testende Verhalten. Hält der Therapeut meine Eigenheiten wohl aus? Das ist weniger bösartig- manipulativ, als auch eine Form des Selbstschutzes und sagt sehr viel darüber aus, wie ihre Biographie so lief. Da scheint es viele Verletzungen gegeben zu haben, die ihr Sicherheitsgefühl Menschen gegenüber geschadet haben.
Sie muss sicher gehen, dass man mir vertrauen kann und scheint das nur so für sich herausfinden zu können. Es gibt kleine Prüfungen, die man bestehen muss.
Die Diagnostik verläuft sehr schleppend, da Frau H. hier nicht so viel reden kann wie sonst. Die Fragebogen-Fragen des Interviews geben ihr nicht so viel Möglichkeit, den Raum zu nutzen, wie sie es will. Sie wird zu sehr in die Ecke gedrängt. Das macht was mit den Vertrauensaufbau, merke ich.
Mitgegebene Diagnostik-Bögen zum Selbstausfüllen kommen überwiegend leer oder mit Fragezeichen wieder zurück.
Eine Menge Extraufgaben liegen in meinem Fach in der Praxis: Befundanforderungen Krankenkasse, Rentenversicherung, Nachfragen anderer Mit-Behandler und Ärzte. Damit verbunden: Viele Extra-Stunden Arbeit, Extra-Aufwand wie Schweigepflichtsentbindungen. Sie bringt mich ganz schön ins Arbeiten, merke ich...
Irgendwann kommt sie tatsächlich doch mit Anzeichen einer ernsten Depression. Also doch?
Auslöser ist, dass eine Bekannte ihr krankes Kind pflegen muss und daher keine Zeit für sie hat. Verhalten dieser Art stürtz sie in tiefe Krisen, in denen sie sich sehr ablehnend gegenüber den Personen verhält, die gestern noch die besten Freunde waren. Da fallen Bezeichnungen wie: Verarscht, Vertrauen missbraucht, ausgenutzt. Das ist ungewöhnlich und mich bestürzt innerlich, wie wenig sie das nachvollziehen kann.
Aber Depression? Nein - man sollte den Begriff nicht synonym für Enttäuschungen und Frust verwenden.
Ich merke trotzdem jedesmal wieder, wie ich mich freue, wenn Frau H. kommt. Ihr Wesen bereitet Freude und es bereitet mir weniger Probleme, einfach nur zuzuhören. Jedesmal ist der Kleidungsstil interessanter und ich merke sogar, dass ich so eine Art Beschützerinstinkt ihr gegenüber entwickle, wenn sie sich über den ganzen Stab an Ärzten beschwert, der sie angeblich falsch behandelt und sie falsch verstehe.
Ich überlege ganz deutlich, was sie so in mir bewegt und warum ich da diesen Beschützerinstinkt entwickle.
SIe löst bei mir aber auch starke Ambivalenz aus: Ich merke, dass ich alle Personen, die von ihr das Weite suchen, gut verstehen kann. Sie muss überall im Mittelpunkt stehen und hat dabei null Empathie für diejenigen, die ihr die Bewunderung nicht zollen. Diese kann sie sogar regelrecht zum Feindsbild erklären. Dabei macht sie auch vor den eigenen Kindern nicht Halt.
Andererseits frage ich mich, wie ich ihr das begrifflich machen kann, dass sie die Probleme selbst erzeugt und den dazugehörigen depressiven Frust auch. Denn eine zu direkte Konfrontation könnte sie sicher nicht aushalten und sie würde....ja, was eigentlich? In die Luft gehen?
Hier merke ich, dass ich in ein System reingreraten bin.
Und das ist typisch für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, die (oft völlig unwissend darüber!) sehr manipulativ werden können.
Ich rede mit meinem Supervisor darüber, der mir erklärt, dass sie wahrscheinlich eine Histrionikerin ist. Histrio-waaas?! Diese Störung stand weder im Studium noch in der Therapeutenausbildung im Vordergrund. Das Wort Histrio ist eine alt-lateinische Bezeichnung für einen Schauspieler im alten Rom. Ich muss spontan grinsen, weil das so passend ist für die Patientin. Manchen nennen Histrioniker sowas wie die weiblichen Narzissten. Während Narzissten aber eher die kompetentesten Personen im Raum sein wollen, wollen Histrioniker hingegen die beliebtesten sein. Ansonsten gibt es da enge Überschneidungen zum Narzissmus - die fehlende Empathie, die Selbstwertregulierung durch Reaktionen der anderen.
Man könnte sagen, dass der Histrioniker versucht, sich Zuneigung und Aufmerksamkeit mittels Mitleid oder Bewunderung zuzusichern, folglich gibt's immer sehr viel Drama oder hingegen zuckersüßes Entertainment-Verhalten. Wehe, die Aufmerksamkeit wird nicht gezollt - auch das überschneidet sich mit dem Narzissten. (Ist übrigens Quatsch, dass Narzissmus männlich und Histrionie weiblich ist, es gibt sowohl als auch!).
Ich lerne durch den Supervisor auch, wie ich mich langsam auch wieder aus dem Netz herausziehen kann. Wie ich unterschwellig Schiss habe, für inkompetent erklärt zu werden, indem ich sie verärgere. Das passiert PiAs am Anfang sehr oft. Wir gehen selbsterfahrungsmäßig ein wenig in dieses Gefühl rein und ich stoße mal wieder auf meinen alten Freund, den Impostor 🙃 Der ist hier echt nicht hilfreich.
Wir stellen auch fest, dass sie den vermutlich schon etwas erschnüffelt hat.
Zum Glück haben wir ihn entlarvt.
Es ist echt entspannend, wie der Supervisor mich "wieder gerade rückt".
Wie geht es nun aber weiter mit Frau H.?
Es erfordert sehr viel Geduld, mit solchen Patienten zu arbeiten, da sie ihre Störung nicht sehen. Man kann ihnen nur sehr vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl klarmachen, dass sie gar niemanden manipulieren müssen, um ihre Bedürfnisse zu bekommen. Das geht erst sehr viel später, wenn die therapeutische Beziehung so gut ist, dass man sich ein Stück nach vorne wagen kann. Ich bin außerdem der Meinung, dass solche Menschen auch viele, viele Ressourcen haben, wo sie im Gegensatz zu anderen glänzen.
- Bei Reden
- Bei Feiern, weil sie dort wirklich jeden gut unterhalten
- Wenn sie schüchternen Freunden helfen, Teil einer Gruppe zu werden
- Beruflich als Teamleiter
etc. pp.
Ich weiß natürlich auch, wovon sie im Leben zu wenig bekommen hat, und fange irgendwann an, das Aussehen zu thematisieren: ,,Sie sehen heute wieder sehr gut aus, Frau H. Ich sehe, dass Sie sich wie immer schick gemacht haben." Ihr könnt euch vorstellen, dass sie vor Glück darüber fast weint. Irgendwann darf sie als Aufgabe aber mal überlegen, was eigentlich passieren würde, wenn sie in Joggingklamotten käme.
Und irgendwann sind wir auch so weit, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, denn die Histrionie kommt wie der Narzissmus ja nicht aus heiterem Himmel über die Leute wie ein Schnupfen. Dort gibt es, anfangefangen in der Kindheit, unfassbar viel Invalidierung in Form von Schlägen und Missbrauch. Auch daran arbeiten wir.
Ich habe heute so einige Histrioniker und Narzissten in der Praxis, die gerne lange bleiben und mit denen ich wiederum gerne arbeite 🙂. Natürlich ist es nicht nur ein Spaziergang (denn diese Patienten nutzen oft Abwertung, um sich zu schützen) und es ist viel Intervision oder Supervision gefragt. Eine interessante Feststellung ist, dass sie ganz ohne direkte Konfrontation irgendwann anfangen, zu sehen, was an ihnen kompliziert und schwierig ist, und wie das auf andere wirkt. Ein gewisses Fingerspitzengefühl, viel Geduld und vor allem viel Bereitschaft, Unkonventionelles zu akzeptieren, gehört dazu.
Ich kann aber auch absolut verstehen, wenn viele PiAs diese Patienten an sehr erfahrene Therapeuten abgeben. Denn eine direkte ,,Heilung" in dem Sinne ist nicht möglich.
Ja und irgendwie stelle ich fest, dass man das hier auch in die Kategorie "Krankheitsbilder, die keiner kennt" umbennen könnte. 😅 Aber ich finde es tatsächlich auch wichtig, auf diese aufmerksam zu machen. Vom Psychologiestudium und der klinisch-psychologischen Arbeit sind in der Tat viele romantische Vorstellungen im Umlauf.
Bleibt gesund und haltet zusammen,
LG
Feature Foto: Anastasiya Gepp /Pexels.com
*Diese Kategorie stellt nur meine ganz persönliche Erfahrung mit der Praxis im Vergleich zum theoretischen Studium dar. Die Patient:innen sind oft ein Konglomerat mehrerer Patient:innen und Situationen, welche ich zusammengefasst habe :-).
Bearbeitet von Vica
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