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Erstkontakt: Malignes neuroleptisches Syndrom


Vica

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*Können psychische Erkrankungen ohne Zutun des Patienten zum Tode führen?
Den gefürchteten psychiatrischen Notfall des malignen neuroleptischen Syndroms finde ich in keinem meiner Studienunterlagen, außer in einem Nebensatz im Master. Auch im Fernstudium habe ich nie davon gehört. Das Krankheitsbild ist relativ selten, so sehr, dass es eigentlich in einer Folge Dr.House dargestellt werden könnte. Dennoch war die Wahrscheinlichkeit, auf unserer Station (Wahnhafte Störungen + Sucht) einer solchen Störung zu begegnen, höher als auf anderen. Denn sie wird von dem ausgelöst, womit man Wahn behandelt, durch eine Nebenwirkung von Neuroleptika

Erstmals mitbekommen habe ich das durch einen jungen Patienten, der so um Anfang 20 gewesen sein dürfte. Herr M. ist wohnungslos und seit Jahren süchtig. Eine Erkrankung mit Schizophrenie (wahnhafte Störung mit Wirklichkeitsverlust, Wahnvorstellungen, überwiegend Stimmenhören, Verfolgungs-/Fremdbeeinflussungsängsten etc.) bestand offenbar seit dem späten Teenageralter. Die Verwandten hatten es nicht mehr ausgehalten und setzten ihn vor die Tür - genau diesen Verlauf hört man enorm oft, insofern war Herr M. nichts Ungewöhnliches bei uns. Der Sozialarbeiter hatte ihm gerade Hoffnung gemacht, dass ein Langzeittherapieplatz in und eine Wohnmöglichkeit in Aussicht stehen könnte; sogar eine Besichtigung hatten die beiden geplant, insofern standen die Zeichen für die Zukunft zunächst mal gut
 
Insgesamt ein sehr sympathischer, geselliger und eher zurückhaltender Patient (seeehr angenehm auf einer Wahn-Station!)
Bei der Chefarztvisite, zu der Herr M. fröhlich gelaunt und vielleicht etwas schüchtern hereinkommt, scheinen der Chef- und der Oberarzt allerdings Signale zu empfangen, die ich und die Assistenzärztin irgendwie nicht auf dem Radar haben. Herr M. sieht gut aus und berichtet gebessertes körperliches Empfinden. Er war erst seit vorgestern hier und gebessertes Empfinden bei fehlender Eigen- und Fremdgefährdung ist ein Grund, die Entlassung zu planen. 
Pflege, Assistenzärztin + ich hätten eigentlich gedacht, dass der nach dem Mittagessen geht. 🤔
 

Unsere beiden Chefs sehen das aber offenbar anders, als sie seine Kurve (seine Papierakte) studieren. Sie sehen deutlich besorgt aus. Besonders die Kreatin-Werte des Patienten im Blutbild scheinen ihnen Bauchweh zu bereiten. Immer wieder fragen sie, ob er Fieber hat, was er verneint, er hat auch jetzt keines. Darauf kann ich mir keinen Reim machen, aber Infektionen gibt's natürlich bei uns auch ab und an. Ich denke auch jetzt, dass sie darauf hinauswollen, ob er sich eine Erkältung oder eben Corona (zu der Zeit noch häufig und ein riesiges Problem auf Station) haben könnte. 
Seine Medikamente setzen sie alle sofort ab, was ich ungewöhnlich finde, weil es ja die sind, die die Schizophrenie behandeln. Ich habe auch noch nie erlebt, dass man sie komplett streicht. Aber auch da denke  ich mir nichts dabei.

Am Nachmittag desselben Tages ruft der Chefarzt bei mir an. Da die Stationsärztin weg ist, soll ich mit ihm kommen und protokollieren, wir machen eine Zimmer-Visite bei besagtem Herrn M. Sein Zustand hat sich im Laufe des Tages wohl sehr verschlechtert. Als wir im Zimmer ankommen, sieht man den heute morgen noch munteren Herrn M. in seltsamen Verrenkungen auf dem Rücken im Bett liegen. Die Beine sind angewinkelt wie in Sitzhaltungen, die Hände hoch in die Luft gestreckt und an den Handgelenken seltsam verdreht. 

Herr M. ist bei Bewusstsein, aber antwortet uns nicht, sondern blickt starr geradeaus. Der Chefarzt spricht trotzdem mit ihm und erklärt seine Schritte. Er bewegt Herrn M.s Gliedmaßen hin- und her, sie bleiben jeweils in der Position. Das kenne ich nun wiederum aus dem Studium, das ist ein katatoner Stupor,  und der sieht so aus:

 Das Ganze ist zwar extrem scary, vor allem wenn der Patient alles mitbekommt,  sozusagen "gefangen im eigenen Körper".
Und ja, es ist wirklich sehr gewöhnungsbedürftig, das mit anzusehen - Menschen verharren normalerweise nicht in solchen unangenehmen Positionen und es wirklich krass, was Erkrankungen mit einem anstellen können. 
Aber ein katatoner Stupor kommt auf einer Wahnstation häufiger vor, wenn der Patient akut wahnhaft ist. Grundsätzlich gefährlich ist er nicht direkt. Aber: Der Chefarzt hat aber wieder die Temperatur des Patientin im Auge. Sie liegt im relativ ungefährlichen Bereich von 37,2 herum, was aber schon 0,2 Grad mehr sind als am Morgen. Bevor ich gehe, soll ich ihm anrufen und nochmal die Kreatin-Werte durchgeben, was ich auch mache. 

Von der Pflege erfahre ich später, dass Herr M. bis zum Mittagessen vergleichsweise normal drauf war, aber dann ging es rapide nach unten mit seinem Befinden: Zunächst stärkstes Schwitzen mit unglaublichem Durst. Dann habe er seine Augen nicht mehr bewegen können - das habe Panik verursacht und er sei ,,durchgetickt", habe das Gefühl gehabt, dass die Pflege ihn vergiftet habe. Später habe er dann gedacht, Strahlen aus dem Handy hätten ihn unter Kontrolle. Auch das haben wir seeeeehr oft auf dieser Station. Schließlich bricht er mit Herzrasen zusammen und muss ins Bett, wo er zunehmend mutistisch (stumm) wird und später dann den Stupor entwickelt. Herz-Kreislauf und Schwitzen stabilisiert sich bald, weswegen keiner etwas Schlimmes vermutet. Nur der Chefarzt ist nicht überzeugt, er ordnet eine ganz engmaschige Betreuung an. 

Als ich Feierabend habe, sehe ich mehrere Pfleger vom Nachtdienst um sein Bett stehen.

Am nächsten Morgen erfahre ich, dass Herr M. relativ rasch Fieber entwickelt hat. Er wird als Notfall in ein somatisches Krankenhaus verlegt. Dort kommt er noch bei vollem Bewusstsein an, fällt aber ins Koma. Wenige Stunden später stirbt er. 
Er ist schon verstorben, als ich den Dienst antrete. 
Der Oberarzt berichtet, dass Herr M. ein malignes neuroleptisches Syndrom entwickelt hat, im Prinzip eine sehr schwere, seltene Nebenwirkung auf sein Medikament (ein Neuroleptikum). Sobald der Patient erhöhte Temperatur entwickelt, wird es sehr kritisch. Das hatten meine beiden Chefs wohl im Auge gehabt und hatten darum schnell gegengesteuert. Dennoch umsonst. 

Obwohl die Mortalität dieser Erkrankung nicht so hoch ist (5-22% herum schlimmstenfalls) kommt es leider doch manchmal zum Tod. Vor allem, wenn der Körper zu sehr ausgezehrt ist von jahrelangem Drogenmissbrauch und Leben unter schwierigen Bedingungen. 
Zwar kannte ich Herrn M. nur am Rande, er nahm keine psychologischen Gespräche wahr. Und doch traf mich damals die Nachricht. Vor allem wegen seiner ziemlich wegen seiner bedauerlichen Vorgeschichte und weil er keine Möglichkeit mehr hatte, gegenzusteuern. 

Auch das sind also Dinge, die in der Psychiatrie vorkommen können und dessen man sich als klinische:r Psycholog:in bewusst sein muss. 


Bleibt gesund & haltet zusammen,

LG

Titelbild: Craig gary/pexels

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*Dies ist eine kleine Serie über meine Ersterfahrung mit gewissen Störungsbildern aus meiner Klinikzeit, über die ich damals nicht so gerne sprechen wollte. Es sind Störungsbilder und Situationen, die viele beim Wunsch, Psycholog:in bzw. Therapeut:in zu werden, nicht so auf dem Schirm haben. Wenn du Psycholog:in werden willst, denk dran, dass du auch mal damit konfrontiert wirst und mit Patient:innen, die man nicht immer ,,heilen“ kann. Heilung ist auch nicht immer das Ziel. In regelmäßigen Abständen stelle ich euch meine Ersterfahrung mit Störungsbildern vor. Dabei beziehe ich auch mit ein, wie mir das (Fern)studium half.
Die dargestellten Patienten sind dabei oft ein Konglomerat aus verschiedenen Patienten und Begebenheiten.

Bearbeitet von Vica

2 Kommentare


Empfohlene Kommentare

da hab ich was ganz neues gelernt und mich anschließend durch mehrere Wiki-Artikel geklickt! sehr interessanter Einblick wieder mal, danke :)

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