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Ein Praxisleben


Vica

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Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne - und nun sind schon fast 4 Wochen ins Land gezogen, seitdem ich nun für zwei Tage die Woche in einer psychotherapeutischen Praxis angefangen habe. So ungefähr verläuft ein Beispieltag:

Praxisarbeit
Das Aufstehen ist entspannt. Den ersten Termin habe ich auf 8:30 gelegt und wenn man ansonsten mit den Hühnern aufsteht, ist das gefühlt ein Ausschlafen. Die Praxis ist ca. 10 Minuten weg, also muss ich nicht groß am Vortag planen, was man anzieht und mitnimmt, um auch bloß rechtzeitig wegzukommen. 

Mein Arbeitsweg startet also auf dem Fahrrad, mein Lieblingsfortbewegungsmittel, und endet dann dank der zentralen Lage der Praxis recht schnell wieder :-). Die Stadt hat zwar noch nicht auf, wenn ich ankomme, aber trotzdem herrscht schon reges Treiben: Ladung, Verräumung, erste Bäcker öffnen. Dazwischen: Schulkinder. 

Es erinnert mich an mein Masterpraktikum im Fernstudium an einer Privatklinik, wo ich auch diese Weg gegangen bin und was ebenfalls eine sehr gute Zeit war :-).

Ich schließe die Praxis auf und schaue, wer schon da ist. Die älteren Sprechstundenhilfen - die schon zum Vorbesitzer gehörten - sind sowas wie die guten Seelen der Praxis. Sie sind immer früher da, als sie müssten. Sie lüften Räume durch, stellen Blumen auf die Fensterbänke, füllen Klopapier auf, achten drauf, dass Zeitschriften im Warteraum liegen. 
Nach kurzem Smalltalk gehe ich dann in meinen eigenen Raum, verrücke die Stühle, öffne die Fenster und schaue, dass ich Laptop, WLAN, Praxissoftware und Kartenlesegerät zum Laufen kriege (was nicht ansatzweise ein Problem ist). 
Außerdem schaue ich nochmal kurz in die Patientenakte.

Der erste Patient ist pünktlich, ich hole ihn aus dem Wartezimmer ab. Er ist ordentlich nervös, darum lockere ich das Gespräch zunächst auf mit Smalltalk, was bei ihm immer sehr gut gelingt. Ich biete auch was zu trinken an, denn dies kann Spannungen lösen.
Heute steht eine Testung auf dem Programm, die Differenzialdiagnose des Patienten ist noch nicht ganz klar. Ich erkläre dann nochmal, warum die Testung wichtig ist, was das mit der Krankenkasse zu tun hat und dass sich Fragen auch wiederholen können und das anstrengend ist. Ich entscheide mich für ein großes klinisches Interview. Den ersten Teil hatten wir in den Stunden davor schon angefangen.
Der Haken an Ende: Mehrere Diagnosen passen und es ergibt  sich die Frage nach der so genannten Therapiehierarchie. Was wollen wir vordergründig bearbeiten? Ich belasse es nicht bei dem Interview, sondern mache noch zwei schnelle kurze Tests, um etwas gegenzuchecken. Die Patient:innen haben in Kliniken die Erfahrung gemacht, dass sie Diagnosen teilweise nach einem kurzen Gespräch fest eingetragen bekamen - und seitdem nicht mehr loswerden.

Patient Nr.1 geht erschöpft, aber zufrieden. Er ist froh, dass man so genau versucht herauszufinden, was er hat. Die nächste Patientin kommt belastet an, sie kann sich auch nicht so recht auf Smalltalk einlassen. Darum setze ich hier eine Achtsamkeitsübung zur Entspannung um, bevor man die Sitzung überhaupt eröffnet. Nachdem sie sich wieder etwas entspannen konnte, machen wir heute eine biographische Anamnese. Ich will in erster Linie herausfinden, was die Biographie der Patientin zu ihrem Störungsbild beigetragen hat, welche Erziehungsmuster es gab und welche Problemlösestrategien es so gab. 
Der nächste Patient ist neu und berichtet umfassend über sein Leiden. Während ich zuhöre, sind eigentlich zwei Köpfe aktiv: Der eine, der verbal und non-verbal zuhört. Der andere, bei dem sofort das große Hypothesen-Zahlrad angeht. Ich male erste kleine Ideen auf und wir versuchen, zusammen ein Störungsbild zu skizzieren, das aber nur eine erste Idee darstellt. Danach trage ich die Verdachtsdiagnosen ein, die jederzeit geändert werden können.

Feierabend
Nachdem alle Patienten für heute erschienen sind, packe ich alles zusammen, verrücke die Sessel wieder und schließe die Fenster. Auf dem Flur begegne ich zwei meiner approbierten Kollegen. Man begegnet sich bisher sehr selten, weil man ja stets andere Terminzeiten hat. Doch diesmal reicht es für ein kurzes sympathisches Gespräch. Es ist ein gutes Gefühl, nur approbierte Kollegen um sich herumzuhaben. Leute, die weiter sind als man selbst und von denen man lernen kann. Ich verabschiede mich dann auch von den Sprechstundenhilfen. 

Nach der Praxis gehe ich in ein kleines Café gegenüber und trinke dort einen Milchkaffee oder futtere noch etwas. Das ist etwas, was mir seit Beginn des Fernstudiums brutal gefehlt hat: Sich einfach kurz eine solche Auszeit nehmen, ich mag es, einfach kurz in einem Café herumzuhängen 😁 Nachdem ich mich gestärkt habe und zum Schluss noch die WA-Nachrichten meiner Freunde beantwortet habe, geht es nach Hause. Hier dokumentiere ich in der Praxissoftware kurz den Studenverlauf und trage die Leistungen ein - dabei kann man auch stets sehen, welche Summen man dabei generiert. Der ganze Nachmittag gehört den Kids. 

Supervisor treffen
Am Abend packe ich wieder meine Sachen - ich muss zum Supervisor, ebenfalls 10 km mit dem Fahrrad, nur diesmal in eine andere Richtung. Alle Patient:innen müssen supervidiert werden. Der Termin ist Pflicht. Ich bespreche mit ihm heute den Patienten mit den vielen Diagnosen. Hier geraten wir fast aneinander, weil wir die Dinge unterschiedlich sehen, können uns dann aber doch einigen. Es bleibt noch Zeit für einen weiteren Patienten - hier besprechen wir den Antrag für die Krankenkasse. Er sieht soweit gut aus, aber einige Teile muss ich überarbeiten.
Nach 45 Minuten ist auch schon wieder Schluss und es geht zurück nach Hause.  
 

Tja, und die nächsten 3 Tage ist dann wieder Klinik + Pendeln angesagt. Ehrlich gesagt lässt sich die Klinikarbeit aber leichter aushalten, nachdem man zumindest zwei Tage diese erfüllende Praxisarbeit hat. 😁

Bleibt gesund & haltet zusammen,
LG

Bearbeitet von Vica

4 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Hört sich sehr entspannend an, obwohl... sich mit dem Supervisor in die Haare kriegen ist ja jetzt auch nicht lustig. 😕

 

Die Supervision ist Pflicht und du musst sie auch aus eigener Tasche bezahlen, oder?

 

Wie viele Patienten hast du denn im Schnitt pro Praxistag?

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vor 20 Stunden schrieb TomSon:

Hört sich sehr entspannend an, obwohl... sich mit dem Supervisor in die Haare kriegen ist ja jetzt auch nicht lustig. 😕

 

Die Supervision ist Pflicht und du musst sie auch aus eigener Tasche bezahlen, oder?

 

Wie viele Patienten hast du denn im Schnitt pro Praxistag?


Ach, ist schon okay, wenn man da nicht immer einer Meinung ist, ich bin aber gespannt, wer sich da am Ende durchsetzen darf 😊

Ja genau, die ist Pflicht und er ist sozusagen rechtsverantwortlich für die Fälle. 
Zum Glück zahlt das Institut ihn, sofern er Kooperationspartner des Instituts ist (bin ja froh, so einen hier vor der Haustür zu haben). Ansonsten wären das 100€ pro 45 Minuten. 
Zahlen aus eigener Tasche muss man dann, wenn man Termine nicht wahrnimmt bzw. zu spät absagt. 
(Eigentlich darf man nur krankgeschrieben sein). 

Bei den Patienten musste ich mich zunächst auf 5 beschränken, später werden es 15 sein, die meisten davon Langzeittherapien. 
Also entweder z.B. 3 an Tag 1, 2 an Tag 2. Oder 4 an Tag 1, 1 and Tag 2...je nachdem 😊 Im Moment muss ich die Termine etwas strecken, mein Supervisor hat sehr wenig Zeit und ich bekomme die nicht rechtzeitig hinterher supervidiert.

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wow, ein toller Bericht. Man liest richtig raus, dass es dir Spaß macht und es eine angenehme Atmosphäre in der Praxis gibt.  Ich finde es schön, wenn so einfühlsam und individuell auf die Patienten eingangen wird.

Hast du es dir denn so vorgestellt?

 

Bearbeitet von SmarthY
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