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Autismus


Nadja_studiert_Informatik

616 Aufrufe

Ich bin Autistin. Ich weiß das noch nicht lange. Zum Zeitpunkt des Interviews mit Markus wusste ich es zum Beispiel noch nicht. Ich habe mir das Video auf YouTube nochmal angesehen, was sehr interessant ist, weil ich durch die Diagnostik Vieles über Autismus gelernt habe, was man zum Beispiel auch in dem Interview sehen kann.

 

Hier im Forum möchte ich gerne eine Stimme aus dem Autismusspektrum sein und ein bisschen über die Herausforderungen mit dem Fernstudium für mich als Autistin sprechen. Meine Vorgesetzten kennen meine Diagnose auch. Insgesamt habe ich vor ganz offen mit dem Thema umzugehen. Ein paarmal hatte ich ja bereits einen nicht so tollen Gesundheitszustand angesprochen und Autismus ist auch nicht der einzige Grund bei mir für gesundheitliche Probleme. Autismus ist ja auch keine Krankheit. Ich bin noch mit den Ärzten am Herausfinden, welche Schwierigkeiten welche Ursache haben.

 

Grundsätzlich hat das Fernstudium für mich den Vorteil, dass es viel weniger Barrieren als ein Präsenzstudium oder eine betriebliche Ausbildung hat:

 

  1. Reize in der Umwelt sind selten ein Problem: Da ich das komplette Studium von zuhause aus machen kann, habe ich große Kontrolle über Licht, Geräusche und Gerüche und kann bequeme Kleidung tragen. In meinem ersten Studium bin ich schon häufig auf dem Hinweg zur Uni umgedreht, weil Alles zu viel war oder ich habe Zusammenbrüche im Hörsaal bekommen. Damals hielt ich diese für Panikattacken. Jetzt weiß ich, dass es Meltdowns und Shutdowns waren.
  2. Ich bin ziemlich flexibel, was meine Bedürfnisse betrifft: Ich kann Pausen machen, langsam studieren, Reihenfolge und Intervalle anpassen.
  3. Es gibt keinen Zwang soziale Kontakte zu haben. Und vor allen Dingen: Kommunikation ist fast komplett asynchron und schriftlich möglich. Es spart enorm viele meiner eh schon geringen Ressourcen, wenn ich niemandem gegenübersitzen muss und nicht gezwungen bin direkt mit Menschen zu kommunizieren, sondern das geplant, strukturiert und dosiert, also nach meinen Fähigkeiten und Bedürfnissen abläuft.
  4. Dadurch dass ich auch noch arbeite, verliere ich mich nicht komplett in theoretischen Gedankenkonstrukten sondern bin immer wieder gezwungen am realen Leben teilzunehmen. In meinem früheren Studium konnte ich mich tagelang in meiner Wohnung einsperren und pausenlos philosophieren, auch ohne Essen oder so, wodurch es mir häufig sehr schlecht ging. Dass ich Freunde hatte, die mich quasi mitgeschleift haben, war rettend für mich damals.

 

Das Fernstudium hat hauptsächlich Vorteile aus meiner Sicht, aber es gibt auch Nachteile:

 

  1. Defizite in den Bereichen die eigenen Handlungen zu steuern und zu überwachen machen es mir oft sehr schwer voranzukommen. Ich bin zwar sehr gut darin zu strukturieren und zu planen. Doch diese Pläne sind häufig nicht zielführend sondern viel mehr komplexe und abstrakte Theorien. Ich kann schwer bis gar nicht von ihnen abweichen, sie konkret umzusetzen ist extrem schwer für mich und den Überblick zu behalten erst recht.
  2. Studieren, arbeiten und einen Haushalt zu führen ist eigentlich nicht machbar für mich. Die Belastung ist enorm hoch. Ich bin sowieso dauerhaft erschöpft, weil bereits meine Umwelt selbst mit ihren ganzen Barrieren schon so belastend ist. Eigentlich bin ich nach einem Teilzeit-Job schon so müde, dass ich alleine keinen Haushalt führen kann. Ich brauche extrem viel Rückzugsmöglichkeiten und viel Zeit für meine Interessen für mich als Ausgleich. Dadurch studiere ich nicht viel und die gesamte Studienzeit zieht sich sehr lang. Arbeiten ist aber notwendig. Ich denke in der Regel gehören behinderte Menschen zu denen, die kein Geld haben, um einfach nur zu studieren und nicht zu arbeiten. Mein Lebenslauf ist vermutlich ein typischer unter behinderten Menschen.
  3. Was ein Vorteil ist (siehe vierter Punkt bei den Vorteilen), ist auch ein Nachteil: Ich benötige viel mehr Zeit, um auf meine Art zufriedenstellend durch die Studieninhalte zu kommen. Ich gehe sehr akribisch und genau vor und brauche viel Zeit für Details und Vertiefungen, die ich nicht habe. Permanente Unterbrechungen erschweren meine Vorgehensart und ich bin nicht in der Lage inhaltlich abzukürzen oder ungeplante Abzweigungen zu machen. Ich denke Alles zu Ende und ich komme gar nicht damit zurecht, wenn das nicht möglich ist.

 

Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist ansonsten noch allgemein etwas zum Thema Autismus zu schreiben. Vielleicht lasse ich mal zuerst den Fokus auf dem Thema dieses Forums: Fernstudium. Mal sehen wie sich das entwickelt und ob es Fragen oder sonstige Gedanken dazu im Forum gibt. Vielleicht gibt es ja noch andere autistische Fernstudierende, die das auch nicht verheimlichen. Einen guten und hilfreichen Beitrag einer neuro-diversen Person zum Thema ADHS gibt es ja bereits. 

8 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Zitat

was man zum Beispiel auch in dem Interview sehen kann.

 

Möchtest Du etwas dazu schreiben, was Dir hier aufgefallen ist? Ich habe Dich damals als sehr angenehme Gesprächspartnerin erlebt. 

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vor 17 Stunden schrieb Markus Jung:

Ich habe Dich damals als sehr angenehme Gesprächspartnerin erlebt. 

Vielen Dank, das freut mich. Ich fand auch, dass du das Interview sehr gut gemacht hast.

 

vor 17 Stunden schrieb Markus Jung:

Möchtest Du etwas dazu schreiben, was Dir hier aufgefallen ist?

Prinzipiell kann ich sagen, dass ich eigentlich nicht so bin wie in dem Video. Mein Freund hatte auch zugesehen und gesagt, ihm ist aufgefallen was für ein gutes Schauspiel ich gemacht habe. Er erlebt mich ja fast immer nur privat. Ca. einmal oder zweimal im Jahr sind wir mit Freunden zusammen und das ist dann nochmal anders.
 

Es ist halt gar nicht meine natürliche Art sondern ich wende bewusst gelernte Kommunikationsregeln an. Weil diese für mich nicht intuitiv sind, sondern gelernt und bewusst angewendet, passt es nicht immer sehr gut.
 

Ich nenne Beispiele: Ich habe oft versucht lächelnd in die Kamera zu schauen. Manchmal klappt es einigermaßen und manchmal sieht es in den Situationen so aus als würde ich ins Leere starren. Ein paar mal wirkt es wie Kichern, als ich versucht habe, bestätigend zu lächeln.

 

Während Videomeetings schaue ich auch immer mein Bild an, zum Beispiel um zu schauen, dass ich eine glatte Stirn mache, um nicht böse zu gucken, damit der Mund normal aussieht usw. Außerdem verliere ich den Faden, wenn ich die Bilder der Anderen anschaue. Ich kann Mimik nicht richtig lesen. Das heißt, ich brauche viel Zeit, um die Gesichtsteile zu untersuchen und nach Regeln zu interpretieren. Wenn ich reden oder mich inhaltlich konzentrieren muss, geht es sowieso gar nicht und ich lasse es dann lieber gleich und konzentriere mich lieber auf meinen Gesichtsausdruck, den Inhalt und den Gesprächsfaden. Das ist bereits extrem anstrengend, bekomme ich aber hin.

 

Vermutlich kann man gar nicht viel damit anfangen, wenn man mich privat nicht kennt. Ich mache dieses Schauspiel sehr gut. Ich verwende in Meetings, die ich moderieren muss, auch immer logische Diagramme, um zu schauen, was ich tun muss, wenn geschwiegen wird oder wenn ich unterbrochen werde usw. Sonst könnte ich gar nicht reagieren. Mein Freund beschreibt es so: Ich bin ein Chatbot. Also einer der alten KI-Sorte, ein Expertensystem. Ich bin gut in solchen Expertensystemen. Das funktioniert so gut, dass den meisten Menschen im Gespräch nichts auffällt.

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Vielen Dank, dass Du so offen und ausführlich auf meine Frage geantwortet hast. 🙂

 

Ich finde das super interessant. Unter anderem, weil ich selbst nach eigener und fremder Einschätzung super darin bin, eine „Maske“ zu tragen. Und ich gerade bei den Interviews oft die Rückmeldung erhalten, etwas kühl und distanziert zu werden. Nur wenige Menschen aus meinem privaten Umfeld erleben mich mal ganz authentisch. 

 

Dich habe ich im Interview aus meiner Sicht als offen und introvertiert erlebt, während viele Gesprächspartner:innen, gerade die Profs der Hochschule, häufig sehr extrovertiert sind und sich präsentieren möchten. Und ja, schon auch so, dass Du sehr bedacht geantwortet hast.

 

Du bist ja beruflich sehr viel in Meetings. Da stelle ich es mir enorm anstrengend vor, wenn Du ergänzend zu dem was inhaltlich passiert auch ständig noch darauf achtest und versuchst anzupassen, wie Du gerade wirkst und Dich verhältst.

 

Verständlich, dass Du da häufig in der restlichen Zeit dann nur noch erschöpft bist.

 

Umso schöner, dass Du Dich auf das Interview mit mir eingelassen hast. Danke. 😊

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Man lernt so einiges im Laufe des Lebens, vor allem wie man Verhalten immitiert damit man nicht auffällt...

 

Ich krieg trotzdem ständig schimpfe, weil meine Schwägerin meint ich wäre in einigen Situationen viel zu unsensibel. Ich bin der Ansicht eine gute Distanz würde auch den anderen Gut tun, gerade in der Sozialen Arbeit. Ausserdem irgendwer muss ja einigermaßen den Überblick behalten, sonst wären solche Aufbau Arbeiten wie wir sie jetzt gerade machen zum Scheitern verurteilt ;)

...

Auf FB gibt es ein paar interessante Aspie Gruppen...

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vor 48 Minuten schrieb AZI:

Man lernt so einiges im Laufe des Lebens, vor allem wie man Verhalten immitiert damit man nicht auffällt...

Ich würde für mich vor allen Dingen das Wort „auswendig“ noch an den ersten Satzteil hängen. Ich überlege gerade, was ich eigentlich LERNE durch die Anpassungsversuche. Ich weiß es gar nicht und bin gerade verwirrt. Mir fallen nur so Dinge wie Einsamkeit und sich anders fühlen ein. Aber das kann ja irgendwie nicht sein. 🤔 Ich habe gerade einen Knoten im Kopf.

 

vor einer Stunde schrieb AZI:

Ich krieg trotzdem ständig schimpfe, weil meine Schwägerin meint

Ich weiß, warum mein Freund und ich gerne unter uns leben! Das klingt anstrengend.

 

vor einer Stunde schrieb AZI:

ich wäre in einigen Situationen viel zu unsensibel. Ich bin der Ansicht eine gute Distanz würde auch den anderen Gut tun, gerade in der Sozialen Arbeit. Ausserdem irgendwer muss ja einigermaßen den Überblick behalten, sonst wären solche Aufbau Arbeiten wie wir sie jetzt gerade machen zum Scheitern verurteilt ;)

Ich kriege nicht nur Meltdowns aus Überforderung bei dem Thema, sondern auch regelmäßige Wutanfälle. Ich halte mich für seeehr sensibel und empathisch. Aber ich muss halt schon erstmal wissen wie es jemandem geht. Entweder jemand sagt mir das halt deutlich oder ich muss es mir irgendwie logisch ableiten und das kann daneben gehen. Bei Tieren funktioniert das (vermutlich durch meine berufliche Erfahrung) sogar besser als bei Menschen. Geschockt bin ich jedoch über so viele komplett unempathische Menschen, die ja angeblich so toll intuitiv die Gefühle der Anderen verstehen, dann aber rassistisch sind, die Tierindustrie unterstützen, Mobbing betreiben, sich über Unfälle Anderer in YT-Videos lustig machen und und und… Mir ist es ein Rätsel wie man sich so Verhalten kann und denke solche Menschen haben viiiel zu viel Distanz. Oder sind logisch komplett broken. Oder beides. Ich höre besser auf jetzt…

 

vor einer Stunde schrieb AZI:

Auf FB gibt es ein paar interessante Aspie Gruppen...

Danke für den Hinweis. Ich bin mit Facebook, Instagram etc. irgendwie nie warm geworden.

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