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Der Patient ist...spurlos verschwunden


Vica

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Dienstags, 9:52 in einer psychotherapeutischen Lehrpraxis irgendwo in Deutschland. Um 10:00 kommt der nächste Patient, ich muss mich ziemlich beeilen mit der Doku der Patientin davor, die vor 1 Minute erst gegangen ist. Gab's noch was Neues bei ihr? Dann muss das auch in den Text, genauso wie die Länge der Stunde, alles vermerkt in unserer Praxissoftware. Ja, es bleiben normalerweise keine 10 Minuten zur Doku. Gut, dass wir Dokumentieren in den klinischen Modulen im (Fern)Studium schon eingeübt haben 😁 Im klinischen Alltag lernt man dann zusätzlich, mit Lichtgeschwindigkeit zu formulieren und zu tippen. Zwei Dinge, die hier sehr hilfreich sind. 

Um 9:54 bin ich schon fertig, wische das White Board und lege die Stifte bereit. Immer noch Zeit, kurz durchzulüften und WhatsApp-Nachrichten zu beantworten. Tatsächlich ist das der Zeitpunkt, an dem die meisten Patienten auftauchen - gute 6-7 Minuten vorher, denn viele brauchen so im Schnitt 5 Minuten, um sich aus Jacken und Schals zu schälen, die Toilette zu nutzen oder sich nochmal kurz zu sammeln (gerade die Neuen sind aufgeregt). Als nächstes kommt ein Herr, sehr zuverlässig, der 4x da war. Die Tests sind ausgewertet, die vorläufigen Diagnosen (Anpassungsstörung, mittelgradige Depression) würde ich ihm heute mitteilen. Realistisch ist aber, dass ich vieles auch erst so in der 19. bis 21. Sitzung zeigt. Die weitere Planung liegt wie versprochen bereit.
9:57: Noch keiner da, also noch etwas Verschnaufpause für mich. Nicht verkehrt, so kann ich nochmal Kaffee nachfüllen. Um Punkt 10:00 Uhr ist noch niemand da, was eher ungewöhnlich ist. Denn ab jetzt läuft die Zeit. 
9:58: Es klingelt! Aber es ist der DHL, der mal wieder in den PiA-Räumen geklingelt hat, statt bei der Chefin. 
10:05 - Ich werfe nochmal einen Blick aufs Patienten-Handy und in die Mails, ob der Patient doch abgesagt hat. Oder ob es eine Nachricht à la "Stecke im Stau" gab. Beides schweigt allerdings. 
10:10 - Hier ist so der Wendepunkt erreicht, wenn man weiß, irgendwas läuft nicht richtig. Entweder Termin vergessen oder (das verdrängt man zunächst) der Patient kommt ganz bewusst nicht. Beides ist übel, da PP-Termine wie Facharzttermine gehandhabt werden: Es wird dann ein Ausfallhonorar fällig, so schreibt es das Institut vor (da das Institut auch die Raummiete für mich zahlt und dann ein Verlust entsteht). Das wird in der ersten Stunde auch mit dem Patienten verabredet und er unterschreibt, dass er das verstanden hat. 
10:17 - Ich höre mich nochmal in meiner Ambulanz-Lerngruppe per WA um, ab wann ein Termin als abgesagt gilt. Niemand ist sich genau sicher, aber ab 20 Minuten gilt der Drops wohl definitiv als gelutscht. Meine Kollegen schlagen vor, nochmal anzurufen. Kann ja theoretisch unterwegs was passiert sein, meint eine, und berichtet Horrorgeschichten von verunglückten Patienten. 
10:18 - Ich wähle die Nummer des Patienten (warum bin ich eigentlich immer noch nervös, wenn es darum geht, anzurufen??) und erhalte ein Freizeichen. Ich mache mich drauf gefasst, eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen, doch oho: Was ist das? Weggedrückt. 
10: 19 - Nun bin ich irgendwie gekränkt. Dann geht der typische Psychologen-Narzissmus los, wenn ein Patient nicht auftaucht: Er kommt nicht und sagt nicht ab, werde ich jetzt geghosted? Heißt das etwa, ich bin ein schlechter Therapeut?! Ein Freudenfest für den Imposter 😁 Es klingt albern, war aber riesiges Thema in den Selbsterfahrungen für uns alle. Gottseidank! So kommt man schnell wieder auf die Erde.
10:25 - Ich habe jetzt dokumentiert, dass die Stunde abgesagt ist. Ich könnte nun zur Bäckerei nach drüben gehen und mir Cappu + Zimtschnecke gönnen, da ich bis 11 nichts zu tun habe. Habe aber trotzdem irgendwie das Gefühl, da bleiben zu müssen, falls doch noch jemand auftaucht. Aber kann man das erwarten? Ich nehme mein Handy mit und gönne mir doch was. 

Da dies  mein erster Patient ist, der nicht kommt, bin ich bei den anderen Terminen nicht ganz bei der Sache. Zum Glück verlaufen sie trotzdem gut, aber ich merke, wie das Grübelkarussel angestellt wurde. Zudem ärgert es mich, dass es mich ärgert, ich bemühe mich um Distanzgewinn.
Auch nach Feierabend ist es noch nicht weg. Habe ich am Ende doch was falsch gemacht? War irgendwie unsympathisch, nicht vertrauenserweckend genug?  

3 Tage später aber immer noch keine Reaktion, auch 3 Wochen später nicht. Einmal versuche ich noch, anzurufen - es klingelt nur durch. Keine Mailbox. Bringt ohnehin wohl nichts. Der weiß, wo ich bin. 

4 Wochen später, Gruppensupervision um 18:30 via Zoom - Zum Glück gibt es Supervisoren. Ich spreche den Fall an und auch, dass ich Bammel habe, dass es an mir liegen könnte. Der Supervisor fragt, ob ich schonmal selbst Termine beim Arzt, Frisör etc. abgesagt habe, weil ich keine Lust bzw. Energie dafür hatte. Ja, das kam durchaus schon vor. Wie oft habe ich aber nicht abgesagt, sondern es einfach schleifen lassen und damit ein Ausfallhonorar riskiert? Nun ja, 0x. 
Wir vereinbaren noch eine Deadline. Wenn ich bis dahin nichts gehört habe, muss ich den Platz neu vergeben. Plätze sind zu rar und ich habe zu wenige zu vergeben (15), um sie zu lange warm zu halten. 

6 Wochen später:
Mittlerweile habe ich einen Abschlussbericht geschrieben und die Akte schon eingepackt, um sie ins Archiv zu schicken. Da geht eine Nachricht via SMS mit langem Text bei mir ein. Und da ist er wieder, der Geister-Patient. Ich bin verblüfft, aber auch skeptisch. Es gibt viele Gründe dafür, warum Patienten so handeln: Manche sind durch depressive Schübe so gelähmt, dass nix geht. Einige können mit ihrer Sozialphobie niemanden kontaktieren. Bei manchen Persönlichkeitsstörungen kann es ein Test sein, wie sehr ich mich um die Person bemühe. "Finde mich!" soll das dann heißen. Bei narzisstischen Patienten kommt das bspw. vor. In seinem Fall versucht er es zunächst mit Rumgedruckse, aber später erfahre ich, dass es etwas mit Suchtmittelkonsum zu tun hat, den er sich lange selbst nicht eingestehen will. Vertrauen habe ich jedenfalls zunächst nicht in das Gelingen der Therapie. Ich beschließe nach Rücksprache mit dem Supervisor, den Patienten wieder aufzunehmen, aber mit Auflagen: Termine muss er mir in der nächsten Zeit einen Abend zuvor bestätigen, außerdem soll er persönlich vorbeikommen, um sie aufzunehmen. Außerdem besprechen wir mehrmals das Thema Offenheit und dass wir es uns die irgendwie gegenseitig zugestehen müssen. Nicht einfach, sagt der Patient, der sein Leben lang immer für Offenheit bestraft wurde. 
Ghosting ist aber keine Methode, Struktur und Bindung herzustellen und für manche Unannehmlichkeiten muss ich Verantwortung übernehmen. Ich kann ja schließlich auch einfach nicht kommen, wenn ich krank bin, und ihm nicht Bescheid sagen. 

Wie schön, dass daraus nun schon eine mehr als einjährige Therapie geworden ist  😁 Wobei es so dann nicht immer läuft. Tatsächlich hatte ich bis auf einen Fall keine weiteren Ghosting-Patienten mehr, und auch dieser hat sich wieder gemeldet - jedoch deutlich zu spät (3 Monate +). In dem Fall ist die Tür dann zu. Eine weitere habe ich selbst beendet, da zwar immer abgesagt wurde, aber zu wenig Termine zustande kamen. 
Was wir aber manchmal vergessen, ist dass Patienten gerade zu Beginn noch nicht gut Struktur aufweisen können und dies erst lernen müssen. Man ist da schnell bei sich. Leider sind solche Herausforderungen aber auch kein Thema im (Fern)Studium und auch nicht im theoretischen Teil der Ausbildung. 

Bleibt gesund und haltet zusammen,
LG

Feautre Foto: Ron Lach/pexels.com

Bearbeitet von Vica

3 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Wie oft ich schon Klienten vermisst habe in meiner Sprechstunde, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Allerdings gibt es auch keine Ausfallhonorare und die Zielgruppe sind Studenten. Ich könnte mir da regelmäßig die Haare raufen, weil sie alles so auf die leichte Schulter nehmen. Jemand anderes hätte den Termin gern gehabt und muss nun 4 Wochen warten, während andere nicht mal absagen können. 😢

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Am 1.12.2023 um 14:07 schrieb unrockbar:

Wie oft ich schon Klienten vermisst habe in meiner Sprechstunde, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Allerdings gibt es auch keine Ausfallhonorare und die Zielgruppe sind Studenten. Ich könnte mir da regelmäßig die Haare raufen, weil sie alles so auf die leichte Schulter nehmen. Jemand anderes hätte den Termin gern gehabt und muss nun 4 Wochen warten, während andere nicht mal absagen können. 😢


Fühl ich :-(. In der PP dürfte man eigentlich auch mit Hinblick auf die Chancen für weitere Patienten nicht ewig Plätze reservieren. 

Was du beschreibst, haben wir ganz besonders in der KJP hier! Wenn ich mal meine Terminausfälle + die meiner Kollegen zusammenzähle, weil die Familie nicht kommt, würde ich behaupten: Gut 1/4 aller Termine kommt nicht, und davon 99% ohne Abmeldung (dabei gibt's dort auch Ausfallhonorare, weil es ja ein Psychiater und damit wieder Facharzt ist).
Ist echt einfach oberärgerlich wegen der Warteliste...
 

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