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Erstkontakt: Schizoid


Vica

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*Im klinischen Master und der PP-Ausbildung habe ich so viel gelernt wie sonst nirgends über die Psychologie. Manche Störungsbilder finden aber trotz allem kaum Beachtung und fristen ein Nischendasein in folgender Hinsicht:
- Fast niemand kennt sie
- Es gibt kein Seminar dazu
- In den Vorlesungen bzw. Fall-Anamnesen kommt man nicht drauf zu sprechen
- In Kliniken wird die Diagnose nie codiert/vergeben
- Selbst wenn man sie vergibt, hat man kein Behandlungskonzept dafür

Dazu gehört das interessante Störungsbild mit dem ICD-10 Code F.60.1 - Schizoide Persönlichkeitsstörung. 
Die meisten lesen erstmal fälschlicherweise "schizophren" oder denken "das klingt ähnlich, dann hat das bestimmt auch was mit Stimmenhören zu tun". Weit gefehlt. 

Aber woran liegt das eigentlich, dass die schizoide PS so selten vergeben wird? Ich würde mal behaupten, dass es die Symptome sind, die es sehr schwer machen, diese Störung von anderen abzugrenzen:
Diese Menschen leben zurückgezogen, sind ausgeprägte Einzelgänger und bevorzugen es, sich in Phantasiewelten zu flüchten. Gefühle ausdrücken, Freuden und Genüsse zu erleben ist hier schwierig. Oft gibt es nur einen starren Gesichtsausdruck. Man hat nur wenige soziale Kontakte, viele wenden sich wieder ab. Einsamkeit und Isolierung wirken oft angstverstärkend. Die Welt wird als feindselig und unverlässlich empfunden. Man ist quasi in permanenter Abwehrstellung. 

Das ist alles ein wenig unspezifisch; während sich vermutlich viele Leute ohne F60.1 darin (teilweise) wiedererkennen, gibt es viele Störungsbilder, auf die das ebenfalls passt: Asperger, Depressionen, soziale Phobie, Angststörungen, Narzissmus, Verbitterungsstörungen. Diese haben Behandler viel eher auf dem Schirm. 

Beim ersten Patienten mit Schizoider PS waren wir relativ ratlos, was man ihm abgesehen von seiner Suchtdiagnose vergeben sollte. Es war ein älterer Herr, missmutig, unhygienisch und ständig mit Regelverstößen auffallend. Ein so genannter "Drehtürpatient", er kam seit Jahren immer wieder, eigentlich wegen Alkohol- und Substanzmissbrauch und war deswegen schon im Substitutionsprogramm, welches er aber nun doch regelmäßig schwänzte und stattdessen rückfällig wurde. Jetzt drohte er, aus dem Programm zu fliegen. Substitutionsplätze sind recht begehrt und er hat lange mit seinem Sozialarbeiter darum gekämpft. Bei der Rückfall-Analyse und der Frage, warum er das hart Erkämpfte jetzt schwänzte, fiel mir auf, wie verbittert er über Kleinigkeiten sprach:
Die Sprechstundenhilfen wären nicht freundlich genug gewesen, wie es "Aufgabe der Frauen" sei. Sie hätten ihn anders begrüßen müssen. Die Substitutionslösung sei in seltsamen Behältern gewesen und auch die Darreichung entsprach nicht seinen Vorstellungen. Die Sitze zu unbequem, kein Kaffee angeboten, keine Verabschiedung à la "beehren Sie uns bald wieder". Das waren interessante Vorstellungen für jemanden, der dort auch schonmal randaliert hätte. Natürlich war nicht nur der Substitutionsarzt schlecht, auch alle Krankenhäuser, Therapeuten, Sozialarbeiter, Familienangehörige, die Buslinie, die nicht vor der Tür hält. Der Vermieter, der die Wohnung ihm doch kostenlos zur Verfügung stellen könnte, er hat doch Geld genug. Der Stromanbieter, das Finanzamt. Die Oma, die ihr ganzes Erspartes in ihn gesteckt hat, die alte Mutter, in deren Wohnung er ausgetickt ist, obwohl sie regelmäßig seine Schulden bezahlt hat - alle seien Schuld an seiner Situation.
Ich merke, wie das an meinem inneren Geduldsbaum rüttelt. Solche Empfindungen sind wichtig, da es hilft, zu verstehen, warum andere sich von ihm abgewandt haben

,,Wenn ich mir mal so anschaue, was Ihr Sozialarbeiter so für Sie gemacht hat, fällt mir auf, dass er sich dabei aber ganz schön ins Zeug gelegt hat für Sie. Das geht über das Geforderte hinaus. Ist das dann eigentlich wirklich so, dass er Ihnen echt nur Schlechtes will?" frage ich verdutzt. 
,,Der will doch nur Kohle, deswegen macht der das!" kontert er. 
,,Das kriegt er ja auch, ohne über das Geforderte zu gehen. Könnte es sein, dass er das einfach für Sie tun wollte? Damit sich bei Ihnen was bessert?"
Aber darauf geht er nicht ein, sondern wechselt das Thema. Das tut er mehrmals, immer wenn man ihm kurz die Möglichkeit gibt, zu reflektieren, ob die Welt sich wirklich gegen ihn richtet. Schwierig an Persönlichkeitsstörungen ist mitunter, dass die festgefahrenen Denkmuster überdauernd und nur sehr schwer korrigierbar sind. Zwischendrin hält er inne, weil er immer wieder alle Personen beschimpft. Teilweise wegen Dingen, die er einfach falsch einsortiert und die auch damit zu tun haben, wie er Menschen behandelt. Und dass das leider nun mal bewirkt, dass man von ihm Abstand hält. 

Dabei kann er grundsätzlich nachvollziehen, dass er es anderen schwer macht, ihn zu mögen und ihm freundliche Angebote zu machen - aber alle anderen seien eben auch Schuld, dass er so ist, wie er ist, nun bekäme jeder mal zu spüren, wie das ist. Nach kurzer Analyse stellen wir aber fest, dass er dabei bisher immer nur verloren hat
Wir (bzw. viel mehr ich) überlegen, ob es manchmal möglich wäre,  Menschen zu vergeben, dass sie nicht perfekt sind- und vielleicht um etwas zu bitten. Der Aufwand könnte es wert sein. 
Er ist entsprechend zerknirscht, eigentlich wollte er von mir hören, dass die Welt böse ist. Aber er stimmt schließlich zu. Das grenzt seine Störung auch von einer Nicht-Störung ab: Er hat Leidensdruck und möchte so nicht weitermachen. Er erwartet allerdings, dass sich die Welt dafür ändern muss. Dass er aber auch auf andere zugehen müsste, betrachtet er als eine Art Schikane. Er sieht aber auch, dass er dabei herausbekommen kann, was er für sich möchte. Das ist in der Tat ein winziger Lichtblick, mit dem man arbeiten kann. 
Anfangen will er direkt hier auf Station. Statt die Pflege permanent abzuwerten und ihnen Dinge unterstellen, einfach mal fragen, ob sie überhaupt weiterhelfen können. 

Auf der Heimfahrt im Zug und abends wälze ich die Bücher wegen der Diagnose. Ich habe Narzissmus im Kopf, aber er vergleicht sich nicht mit anderen, nicht nach oben und hält sich generell nicht für kompetenter.  Meine Supervisorin ist so nett, mir noch per WhatsApp zu antworten: Check mal eher etwas Schizoides. Tatsächlich passen alle Kriterien. Mit dem Oberarzt wird das am nächsten Tag eine richtige Diskussion. Am Ende trägt er es aber doch so ein. Das ermöglicht ihm bei der Entlassung vieles - so könnte er es im Anschluss auf einer anderen Station versuchen, z.B. eine, die Persönlichkeitsstörungen im Fokus hat oder auch mal bei einer ambulanten Therapie. 

Gab es denn auch ein Happy End? Freilich nicht, dazu gehören viel mehr als ein paar Sitzungen. Nach seiner Entgiftung 2 Wochen später wird er immer wieder vor die Tür gesetzt. Das Problem ist ja auch, dass man gar nicht weiß, wie man um etwas bittet, freundlich, sozialverträglich. Seine ersten Versuche auf Station gleichen eher Befehlen und sind entsprechend wenig von Erfolg gekrönt.  Ein Training sozialer Kompetenzen wäre da angebracht und das dauert seine Zeit.
Immerhin: Die teilstationäre Suchtklinik sagt zu, einen Platz zu haben. Hier gibt es ein Soziale-Kompetenz-Training in der Gruppentherapie.  

Ob er das wahrgenommen hat? Oder einen anderen geduldigen Therapeuten gesucht hat?  Sehr wahrscheinlich nicht. Gerade in der Weihnachtszeit denke ich an solche Patienten zurück. Wie hart man in dieser Zeit den Abstand zu den anderen spüren muss. Der Oberarzt sieht das ganze nüchtern und findet, ich solle nicht so gefühlsduselig reagieren: ,,Können Sie etwa nicht nachvollziehen, dass sein Umfeld mittlerweile Muskelkater im Mittelfinger hat? Da können Sie nichts therapieren."

Aber ich bin ja froh, dass der Oberarzt und ich nicht einer Meinung sein müssen :-) 
Im ambulanten Umfeld ist mir bisher kein schizoider Patient mehr begegnet, auch viele Jahre später nicht.

Bleibt gesund und haltet zusammen,

LG

Feature Foto: Emilio Sanchez/pexels  

_________
*Dies ist eine kleine Serie über meine Ersterfahrung mit gewissen Störungsbildern aus meiner Klinikzeit, über die ich damals nicht so gerne sprechen wollte. Es sind Störungsbilder und Situationen, die viele beim Wunsch, Psycholog:in bzw. Therapeut:in zu werden, nicht so auf dem Schirm haben. Wenn du Psycholog:in werden willst, denk dran, dass du auch mal damit konfrontiert wirst und mit Patient:innen, die man nicht immer ,,heilen“ kann. Heilung ist auch nicht immer das Ziel. In regelmäßigen Abständen stelle ich euch meine Ersterfahrung mit Störungsbildern vor. Dabei beziehe ich auch mit ein, wie mir das (Fern)studium half. Die Patienten sind dabei oft ein Konglomerat aus verschiedenen Patienten.

 

Bearbeitet von Vica

3 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Hammer. Du hast einen abgefahrenen Schreibstil. Mega. Ein Krimi ist dagegen langweilig. Mach wirklich Spaß zu lesen und ich habe das Gefühl deutlich an Wissen zu gewinnen. Bitte mehr davon -und nicht zu lange warten, sonst dreh ich noch durch hier   ;)    ;)

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Wow, wirklich toller Beitrag! Werde mir deine anderen auch durchlesen!

 

Zitat

Ich merke, wie das an meinem inneren Geduldsbaum rüttelt. Solche Empfindungen sind wichtig, da es hilft, zu verstehen, warum andere sich von ihm abgewandt haben

 

Ich kann mir vorstellen, dass man für diesen Beruf in sich und bei sich im Leben aufgeräumt haben muss, um nicht Situationen bzw. Personen ungerechtfertigte Projekten zu unterstellen. Spannend! 

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