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Erstkontakt: Generalisierte Angststörung


Vica

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*Herr G. kommt gute 27 Minuten zu früh zum Termin, als er an meine Stationstür klopft. Ich habe eigentlich ordentlich mit Entlassbriefen zu tun, die ich abtippen muss; sogar welche von einer anderen Station hat der Oberarzt mir zukommen lassen. Aber wenn er schonmal da ist, können wir auch starten. Erstmal weicht er erschrocken zurück, dann schaut er misstrauisch in mein Büro. ,,Sie können ruhig schonmal reinkommen. Es ist keiner sonst hier", lade ich ihn ein. Er ist in voller Montur: Mütze, Schal, Daunenjacke - die will er auch partout nicht ablegen. Um seinen Rucksack klammert er sich wie um einen Teddy, der bei ihm auf dem Schoß sitzt. 
,,Sie sind ganz schön früh. Eigentlich haben wir den Termin ja erst in einer guten halben Stunde", meine ich. 
Dazu erwidert er: ,,Ich bin gerne etwas pünktlicher. Weil - nun ja - es kann ja eine ganze Menge passieren. Darauf muss man gefasst sein. Und bevor ich zu spät komme, mache ich mich gerne rechtzeitig auf den Weg."

Ich bin zunächst irritiert: Von seiner Zimmertür bis zu meinem Büro auf Station sind es nur ca. 10 Schritte. Also will ich wissen, was alles hätte passieren können, was ihn groß aufhält. Er zieht die Brauen hoch als wollte er sagen "Wie bitte? Das leuchtet Ihnen nicht ein?" und beginnt dann aufzuzählen:

  • Er hätte auf dem Flur stürzen können -> Knöchelbruch -> die Pflege würde ihn dann verarzten, so dass er noch rechtzeitig zum Termin kommen kann. 
  • Man könnte mit einer Pflegekraft zusammenstoßen, die gerade Blut bei einem Hepatitiskranken abgenommen hat -> die Kanülen könnten zerbrechen, das Blut könnte ihn kontaminieren -> Pflegekräfte rennen immer so schnell. Um allen auszuweichen, muss er besonders langsam und umsichtig gehen und das dauert nunmal länger. 
  • Außerdem muss er einen Umweg von weiteren ca. 5 Schritten gehen, da er nur durch den hinteren Stationsflur geht. Im vorderen würden immer der Oberarzt und der Chefarzt rumlaufen, und die würden ihm sicher nur Vorwürfe machen, dass er heute hier ist anstatt auf der Arbeit -> denen will er also lieber nicht begegnen. 
  • Auf Station läuft auch ein Patient rum, vor dem er Angst hat. Wenn er dem begegnet, muss er sich immer schnell auf die Toilette flüchten und warten, bis er weg ist. Das kann Zeit in Anspruch nehmen. 

Diese Dinge meint Herr G. vollkommen ernst. All das sind Unvorhersehbarkeiten, die jederzeit passieren können und bei denen er besondere Sorgfalt an den Tag legen muss, um sie zu verhindern. Sie belasten ihn sehr stark, quälen ihn richtiggehend. 

 

,,Sie sind ja ganz schön beschäftigt. Das stelle ich mir echt anstrengend vor!" sage ich. ,,Aber ich bin auch neugierig: Sind Sie denn gut durchgekommen oder kam was dazwischen?"
Er überlegt. ,,Nee, heute hat es ganz gut geklappt und mich hat nichts aufgehalten. Aber dass es gut ging, ist Zufall. Hätte auch ganz anders laufen können." 


Im Gegensatz zu den meisten anderen Störungsbildern auf unserer Station ist mir das von Herrn G. sofort klar: Die generalisierte Angststörung (GAS) wurde bereits im Fernstudium sehr gut und ausführlich behandelt. Ebenfalls gibt's dazu viele Seminare in der Therapeutenausbildung. Eine typische Klausurfrage (das könnt ihr euch direkt merken!) ist: "Was unterscheidet die generalisierte Angststörung von Angststörungen mit konkreten Auslösern (Phobien)?" Die Antwort ist simpel: Bei den Phobien sind die Ängste an einen konkreten Auslöser gebunden, z.B. Spinnen, Höhe, Menschenmassen. Bei der GAS handelt es sich hingegen um Befürchtungen ohne konkreten Auslöser. Es gibt keine reale Gefahr, aber ständige Sorgen, dass Familienmitgliedern oder einem selbst etwas passieren könnte - auch wenn es zum Teil sehr abgefahren ist. 
Die Ängste treten oft anfallsartig auf und steigern sich zur Panik mit heftigen Körperreaktion, was ein unerträgliches Gefühl ist. Den Rest der Zeit verbringt man mit Sorgen und Sicherheitsverhalten (d.h. Vermeidung), um befürchtete Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen. 

Was Herr G. hier im Mikrokosmos auf Station erlebt, hat er seit einiger Zeit auch im Makrokosmos des Alltags:

  • Seine Mutter könnte gestorben sein, wenn sie nicht innerhalb von 15 Minuten auf seine SMS antwortet. 
  • Seine Freundin könne bei einem Autounfall versterben. Deswegen muss er immer mitfahren, um sie im letzten Moment zu beschützen. 
  • Es könnte ein Leck in der Gastherme geben, welches keiner bemerkt. Sowohl er als auch seine Freundin könnten über Nacht an einer Kohlenmonoxidvergiftung sterben. 
  • Seine Kopf- und Rückenschmerzen gehen auf Krebs zurück, den die Ärzte einfach immer wieder übersehen. 
  • Klagt sein Bruder über Kopfschmerzen, denkt er sofort an einen Hirntumor. 
  • Das Flugzeug in den Urlaub könnte abstürzen, deswegen fährt er nur Bahn und Auto und nie in ferne Länder.
  • Das Auto oder Fahrrad lässt er auch überwiegend stehen und geht lieber zu Fuß, auch wenn es weit entfernte Strecken sind, es könnte ein Reifen platzen und zu einem Unfall kommen.
  • Ultimativer Albtraum: Seine Freundin muss auf Geschäftsreise. 

 

Das Leben ist unerträglich geworden und um damit klarzukommen, konsumiert er verschiedene Benzodiazepine und trinkt zu viel Alkohol. Deswegen ist er offiziell hier, wofür er sich schämt. Aber die Ängste, die kommen von allem Seiten.

Wir kümmern uns leider nur um den Entzug, der etwa 2 Wochen geht. So lange haben wir nur Zeit, ihn zu motivieren, sich im Anschluss auf eine Angststation verlegen zu lassen. 

Ich bespreche ein wenig mit ihm, was die GAS so ist und male den Angstkreislauf an die Flipchart:

Von dem Hereinbrechen der Angstgedanken -> der Gefühl des Kontrollverlusts -> aufkommenden Gedanken wie "Ich bin hilflos" -> der Angst an sich, die entweder Flucht, Vermeidung oder Erstarrung hervorruft -> den körperlichen Veränderungen wie Herzrasern, Zittern, Atemnot.

Ein wichtiges Element, vielleicht das Mächtigste, ist auch, die Gedanken zu Ende zu denken, um erstmal zu verstehen, was denn überhaupt so schlimm an was ist:

  • Er hätte auf dem Flur stürzen können -> Knöchelbruch -> die Pflege würde ihn dann verarzten -> der Termin ist dann abgesagt -> Die Psychologin könnte dann sauer auf mich sein und das darf nicht sein
  • Man könnte mit einer Pflegekraft zusammenstoßen, die gerade Blut bei einem Hepatitis-Positiven abgenommen hat -> die Kanülen könnten zerbrechen, das Blut könnte ihn kontaminieren -> dann würde ich krank werden und sterben und habe vieles, was ich wollte noch gar nicht erreicht
  • Oberarzt und Chefarzt könnten auf mich herabschauen -> das könnte ich nicht aushalten, weil ich dann die Bestätigung habe, nichts wert zu sein.
  • Auf Station läuft ein Patient herum, vor dem ich mich Angst habe und mich verstecken muss -> denn ich traue mir nicht zu, das Problem mit ihm zu lösen, was heißt, dass ich unterlegen und schwach bin


Schlussendlich kann man diese Gedanken dann entsprechend bearbeiten (das ist viel mühseliger, als gedacht und dauert lange). Möglichkeiten:
- Die Psychologin könnte wirklich sauer sein, dass der Termin nicht zustande kommt. Das wäre natürlich schade, dass sie dafür so gar kein Verständnis hat. Es ist aber auch nicht wichtig, die zu überzeugen. 
- Wenn ich kontaminiertes Blut abbekomme, heißt das noch lange nicht, dass ich krank werde. Und wenn doch, könnte man die Infektion schnell behandeln. 

- Ärzte schauen auf mich herab: Das kann sein und es wäre schade. Vielleicht ist es ihnen aber auch egal, oder sie empfinden sogar Mitleid. Beeinflussen kann man es eh nicht, aber es ist kein Schicksal, nicht jedem sympathisch zu sein. (Hier ist auch interessant, dass dies fast immer die Selbstsicht ist)

- Patient, vor dem ich Angst habe, läuft herum, ich verstecke mich: Ich muss ihn nicht ansprechen, muss nichts mit ihm regeln, ich kann einfach an ihm vorbeigehen. Wenn er mir etwas tun will, suche ich mir schnell Hilfe, die Station ist ja voll. 

 

Herr G. ist interessanterweise schon nach wenigen Tagen sehr viel gelöster, wie fast alle Patienten - das liegt daran, dass sie so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung für eine 1 Stunde am Tag nicht mehr gewohnt ist. Die meisten seiner Familienmitglieder und Freunde sind genervt von ihm: Sie erleben ihn als Spielverderber, Pingelkopf und als manipulativen Kontrolleur (weil er z.B. mit seiner Freundin überall hinfährt), denn natürlich redet er nicht über seine Angst, vor der er sich schämt.

Auf Station erzielen wir wie ich finde große Erfolge, zumindest für die 2 Wochen:

  • Er lernt, es mal drauf ankommen zu lassen und wirklich erst punktgenau zum Termin zu kommen. 
  • Am Patienten, vor dem er Angst hat, soll er mal vorbeigehen (Notfallverhalten ist abgesprochen) - wie ich es mir dachte, wird er keines Blickes von diesem gewürdigt. 
  • Am Oberarzt läuft er ebenfalls vorbei. Hier spürt er die Angst am stärksten. Aber auch hier: Nichts passiert. 
  • Letztlich machen wir natürlich auch viel Biographiearbeit und erfahren von einer überängstlichen Mutter, von der ich sich einige Muster abgeschaut hat. Vom Vater, der jedes seiner Gefühle ins Lächerliche gezogen hat. Vom Lehrer, der ihm nicht helfen wollte, als er Dinge nicht verstand. 
     

Mit meinen beiden Kollegen, den Stationsärzten, bespreche ich, dass wir gar keine Medikation verabreichen, außer Dinge, die dem Alkoholentzug helfen und Schlaftee, Pantropazol (Magenschutz), Magnesium sowie Lavendelkapseln.  Mit dem Oberarzt bekomme ich mal wieder Ärger - ich sei zu gutgläubig und zu mild. Das sei ein Trinker und es lohne sich nicht, so viel zu investieren. 
Aber Herr G. ist kein Trinker, denn er hat das Trinken angefangen, um seine Angst zu besiegen. Außerdem: Schaden wird wohl niemanden, mal über Ängste zu reden? Der Oberarzt winkt ab. 

 

Wir verlegen schließlich einen Patienten, der völlig aufgeschlossen gegenüber einen Angstbehandlung ist, die die nächsten 6 Wochen zunächst stationär und dann ambulant weitergeführt wird. Die Aufgeschlossenheit war das Ziel. 

Arbeit mit Angststörungen macht generell Spaß, weil die Patienten oft stark mitarbeiten - sie wollen sie um jeden Preis loswerden und (anders als bei anderen Störungen) ist die Wirkung oft schnell spürbar. Im ambulanten Setting hat man sie daher sehr oft. Bei PiAs und auch Therapeuten sind sie beliebt. 
Ich habe sehr viele ambulante Angstpatienten, bestimmt 50%. Sie brauchen oft maximal 12 bis 24 Stunden. 

Ich nehme mal an, dass Patienten wie Herr G. innerhalb eines halben Jahres eine 180-Grad-Wende gemacht haben. Es gelingt solchen Leuten dann wieder, mehr Genüsse in den Alltag einzubauen. Interessant ist auch immer: Von welchem Problem haben die Ängste mich eigentlich abgelenkt? Womit wollte ich mich nicht befassen?
Und auch, welche Ressourcen eigentlich davon ausgehen, die auch nie richtig ans Licht kommen. Beispielsweise ist das Ausdenken der Befürchtungen schon häufig sehr kreativ, nicht wahr? Und die ganzen Überlegungen zum Thema Vermeidung weisen ja vielleicht auf Lösungsorientierung und Problemlösekompetenzen hin. Eigenschaften, die man vielleicht im Job gut nutzen kann. 

Bleibt gesund und haltet zusammen, 
LG

Feature Foto: MART PRODUCTION/Pexel


_________
*Dies ist eine kleine Serie über meine Ersterfahrung mit gewissen Störungsbildern aus meiner Klinikzeit, über die ich damals nicht so gerne sprechen wollte. Es sind Störungsbilder und Situationen, die viele beim Wunsch, Psycholog:in bzw. Therapeut:in zu werden, nicht so auf dem Schirm haben. Wenn du Psycholog:in werden willst, denk dran, dass du auch mal damit konfrontiert wirst und mit Patient:innen, die man nicht immer ,,heilen“ kann. Heilung ist auch nicht immer das Ziel. In regelmäßigen Abständen stelle ich euch meine Ersterfahrung mit Störungsbildern vor. Dabei beziehe ich auch mit ein, wie mir das (Fern)studium half. Die Patienten sind dabei oft ein Konglomerat aus verschiedenen Patienten.

6 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Ich liebe liebe liebe deine Serie! Als angehende PiA absolut hilfreich sich ein Bild von der eigenen Zukunft zu machen und zum nachdenken anzuregen - danke danke danke! Gerne und bitte mehr davon 🥰

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vor 2 Stunden schrieb Rebekka:

Ich liebe liebe liebe deine Serie! Als angehende PiA absolut hilfreich sich ein Bild von der eigenen Zukunft zu machen und zum nachdenken anzuregen - danke danke danke! Gerne und bitte mehr davon 🥰


Hey, das freut mich zu hören. Habe noch so einige Sachen aus meiner Klinikzeit auf Lager 🙂 LG

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"Arbeit mit Angststörungen macht generell Spaß, weil die Patienten oft stark mitarbeiten - sie wollen sie um jeden Preis loswerden"

 

Das ist interessant, dass du das so wahrnimmst. Ich erlebe ganz oft, dass sich bereits ein sekundärer Krankheitsgewinn ergeben hat und man eher behutsam vorgehen muss, ehe der Patient bereit ist, sich auf Therapie einzulassen. Natürlich nerven die Angstsymptome und manchmal will ja auch das System nicht mehr mitmachen. Aber daraus leitet sich oft noch keine Therapiemotivation ab... zumindest erlebe ich das so.

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Vica

Geschrieben (bearbeitet)

vor 49 Minuten schrieb TomSon:

"Arbeit mit Angststörungen macht generell Spaß, weil die Patienten oft stark mitarbeiten - sie wollen sie um jeden Preis loswerden"

 

Das ist interessant, dass du das so wahrnimmst. Ich erlebe ganz oft, dass sich bereits ein sekundärer Krankheitsgewinn ergeben hat und man eher behutsam vorgehen muss, ehe der Patient bereit ist, sich auf Therapie einzulassen. Natürlich nerven die Angstsymptome und manchmal will ja auch das System nicht mehr mitmachen. Aber daraus leitet sich oft noch keine Therapiemotivation ab... zumindest erlebe ich das so.


Ich hatte bisher nur einen Fall in der Ambulanz, bei dem wir auch nach über 1 Jahr mit der GAS keinen Schritt weiter waren. Sekundären Krankheitsgewinn gab es hier auch, es hatte auch etwas  für sich, in Deckung zu bleiben und keine Verantwortung zu übernehmen. Jede Stunde startete mit den gleichen Angstsituationen, immer wieder zerlegten wir sie gemeinsam mühselig. Jedes Mal ging er angeblich gestärkt raus. 
Irgendwann merkte ich, dass ich mir dezent veräppelt vorkam, und irgendwie merkte ich dann, dass das Ding einfach ich-synton war. 
Es handelte sich in Wahrheit nicht um eine GAS, sondern um eine unsicher-vermeidende PS, aber es war zum Verwechseln ähnlich. 

Ich muss auch unbedingt mal was zu non-response bloggen! 😁

Bearbeitet von Vica
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Hallo Vica,

 

ebenfalls von mir ein recht herzliches Dankeschön für deine tollen Blogs.

 

Auch ich habe viele Klienten mit Angststörung. Und ich muss sagen, dass  ein Teil unserer Klienten wirklich sehr motiviert ist und gut mitarbeitet. Da kann ich mich noch recht gut an einen sehr interessantenten Fall errinnern. Es handelte sich dabei um einen jungen alleinerziehenden Vaters, der unter der von dir beschriebenen generalisierender Angststörung litt. Er dachte auch ständig daran, was alles passieren könnte. Und insbesondere hatte er Angst 😱 um seine kleine Tochter. Es könnte ein Unfall passieren, sie könnte vergiftet werden, das Haus brennt ab, und, und, und. Gleichzeitig war die Tochter sein "größter Motivator" um seine Angst zu überwinden. Denn er wollte unbedingt, dass sie bei ihm aufwächst. Also haben sich alle an der Behandlung Beteiligten im Rahmen einer Teilhabekonferenz überlegt, wie er einen angemessen Umgang mit seiner Angststörung finden konnte und Unterstützungsstrategien entwickelt, wie er in seiner Wohnung gemeinsam mit seiner Tochter betreut werden konnte. Das war nämlich sein allergrößte Wunsch. 

Und er musste sich auch seiner Angst stellen. Jeden Tag war ein anderes Angstszenario dran. Und siehe da: zwei Jahre später ist der junge Mann ein anderer Mensch geworden. Er ist viel gelöster und entspannter geworden und kann jetzt  sogar das Leben mit seiner Tochter genießen. Ja, man kann sogar sagen, dass er über sich selbst hinausgewachsen ist. Denn anfangs brachten ihn keine 10 Pferde in ein Auto, zwischenzeitlich ist er soweit, dass er kleinere kürzere Strecken mit dem Auto selbst fährt. Er hat wirklich ganz, ganz  tolle Fortschritte gemacht! Ich glaube, es beruhigt ihn jetzt auch wirklich, dass er  Ansprechpartner aus dem Gesundheits- und Sozialsystem hat, zu denen er ein gutes Vertrauensverhältnis aufbauen konnte und  an die er sich wenden kann. 

 

Bei einem anderen Fall, einem nicht mehr erwerbsfähigen Lehrer war mir schon nach dem Erstgespräch klar, dass u. a. die Diagnosen generalisierende Angststörung und soziale Phobie nicht stimmen konnten. Im Arztbrief stand drin, dass er sich überhaupt nicht unter Menschen traut. Und bei Menschenansammlungen ihn existentielle lebensbedrohliche Sorgen plagten. Dem war aber nicht so. Er ging raus unter Menschen. Ins Café. Er fuhr sogar mit Bus und Bahn. Auch Grosseinkauf im Supermarkt war gar kein Problem. Er redete mit den Verkäuferinnen oder Apothekern, mit anderen Kunden im Geschäft. Mit anderen Menschen im Café.  Er war sogar sehr kontaktfreudig. Regelmässig unternahm er etwas mit seinem Bruder oder seinen Freunden.Nur dass alles machte er zu den  Zeiten, wo er ganz sicher sein konnte, dass ihm kein Schüler im Bus oder beim Einkauf begegnet.

Und dann bin ich auf die Idee gekommen, dass es etwas ganz anderes sein musste, nämlich seine frühere Wirkungsstätte, die Schule. Ich habe ihn gefragt, ob wir mal gemeinsam in seine frühere Schule gehen könnten? Da fing er an zu zittern und bekam eine große Panikattacke. Dann vertraute er sich mir an: seine früheren Hauptschüler haben ihn richtig gemobbt und einmal sogar richtig verprügelt.Seither traute er sich danach gar nicht mehr in die Schule zu gehen. Ständig bekam er Panikattacken, sobald er nur an die Schule dachte, so dass er letztlich seinen Beruf aufgeben musste. Es war also die Schule bzw. die Schüler, die ihn letztlich krank und arbeitsunfähig  gemacht haben. Er war zum Mobbingopfer seiner Schüler geworden. 

 

Aber leider mache auch ich die Erfahrung, dass die allerwenigsten Klienten mit Doppeldiagnosen (also hauptsächlich schwere psychische Erkrankungen + schwere Suchtproblematik) eher nicht dazu bereit sind, mitzuwirken. Da wir die letzte Station im System sind und diesbezüglich sozusagen nachrangig, befürchte ich, dass relativ viele schon so tief in der Suchtproblematik stecken, dass sich diese nicht mehr wirklich helfen lassen wollen. Viele davon haben schon alles durchprobiert und aus diversen Einrichtungen wegen Sachbeschädigungen & fremdaggressiven Verhaltensweisen dann rausgeflogen. Das sind dann die sogenannten "Systemsprenger", die niemand mehr haben will. Und für uns ist es dann auch extrem schwierig. Denn wirklich helfen lassen wollen sie sich nicht mehr.  Im Gegenteil,  so hart es jetzt auch klingen mag, manche müssen "erst ganz tief fallen, bis sie zu einer gewissen Einsicht gelangen und sich dann doch helfen lassen wollen".

 

Es gibt aber tatsächlich auch eine kleine Klientengruppe, die es trotz extremen  Doppeldiagnosen und größten familiären Problemen / Suchtproblemen schaffen, den Absprung zu schaffen. Da fällt mir eine Klientin ein, die die schlimmsten Höllenqualen in der Kindheit erlitten hat, von ihrem Ehemann vergewaltigt und misshandelt wurde, sich deshalb in die Sucht stürzte und es dann  trotzdem in einer Nacht und Nebelaktion geschafft hat, sich von ihrem Mann zu trennen, einige Jahre auf der Straße lebte und dann auch dem Alkohol Adieu gesagt hat. Der Überlebenswille dieser Frau war so stark, so dass es ihr gelang, ein eigenständiges Leben in einer Wohnung durch ein ambulant niederschwelliges Hilfsnetzwerk aufzubauen. Sie war wirklich sehr resillient. Fast genauso resillient, wie "der Esel, der in den Brunnen fiel".😉

 

Freue mich schon auf deinen nächsten Blog!

 

Herzliche Grüße 

 

 

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Schon irgendwie komisch. Er hat diese Angststörung total rational erklärt mit allen gefahren aber trinkt viel Alkohol die an sich die Gefahren ja noch erhöhen würden (Gefahr für ich selbst und andere) aber dann wird mir wieder klar das machen wir alle irgendwie mit uns. Man nimmt sich selbst weniger wahr wie andere 🤨 oh man……jetzt denke ich zu viel 😂

 

 

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