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Erstkontakt: Forensik


Vica

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Als ich in einer komplett klofreien Zone dringend auf Klo musste, obwohl es noch gut 1 km bis zu meinem Gebäudekomplex der Klinik war, beschloss ich, die Toilette des hübschen Klinikteils zu nutzen, an dem ich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit nur vorbeispazierte. Ein, wie ich finde, besonders ansehnlicher Teil in den Räumlichkeiten eines alten Klosters. Ich hatte keine Ahnung, welcher Psychiatrieteil das war und es stand auch nirgends dran.  
Ich wunderte mich allerdings, dass mein Generalschlüssel, den ich vom Chefarzt hatte, nicht funktionierte. Auch der Türcode verweigerte mir den Eintritt. Zum Glück war da aber ein Pförtner, der das Ganze beobachtet hatte und so kam ich doch noch dazu, die Mitarbeitertoilette nutzen zu dürfen 😁

Die Kollegen auf meiner Station schauten mich später an, als hätte ich einen Reisebericht in ein Paralleluniversum geliefert. Ich erfuhr, dass ich angeblich in der Forensik gewesen war 😁 Der Teil der Psychiatrie, der sich um psychisch kranke Straftäter kümmert. 
Ich wurde sofort gelöchert: Wie sieht's da aus? Hast du Patienten gesehen? Sind die Fenster vergittert?
Nichts konnte ich beantworten, ich hatte ja auf nichts geachtet.

 

Hintergrund: Die Forensik war tatsächlich ein sehr isolierter Bereich bei uns. Kein Austausch mit anderen Stationen. Als Pfleger, Psychologe oder Arzt konnte man bei Personalmangel in wirklich jeden Klinikbereich eingesetzt werden - außer in der Forensik. Auch nicht umgekehrt. Klinikinterne Schulungen und Kongresse fanden natürlich mit dem Gesamt-Klinikpersonal statt. Außer mit einer Station...nun ja, ihr könnt euch vermutlich denken, welche nicht dabei war. 
Darum funktionierte dort auch nicht unser Generalschlüssel. 
Warum das so war?
Erfuhr man nicht. Ober- und Chefarzt beschwichtigten nur mit "Haben wir rechtlich nichts mit zu tun."

Obwohl durchaus großes Interesse besteht, ist es für Psychologen und vor allem PiAs gar nicht immer so einfach, in der Forensik angenommen zu werden. Zeitgleich herrschte aber genau da - zumindest in unserer Region - große Personalmangel.
Erschwerend kam damals noch dazu, dass im gesamten Sektor massive Sparmaßnahmen eingeleitet worden waren und die psychologischen Therapien oft wegfielen, da auch die Psychologen wegrationalisiert wurden. Die Forensik hatte damals einen Psychologen, den ich noch kennengelernt habe. Es war ein harter Hund, der in Anzug und Krawatte erschien - aber ich dachte damals auch, dass seine robuste Art wohl genau das Richtige für die Station war. Er verschwand aber recht schnell im Rahmen der extrem gruseligen Kündigungswelle. Seitdem gab es in der Forensik wohl 1x die Woche Gruppengespräche, die von Pflege oder Sozialarbeiter angeleitet wurden. Das ging gerade noch so durch als Therapiemaßnahme. 

Aber wie es manchmal so ist, kommt der Berg ja auch mal zum Propheten 😁
Zu uns kam kein Berg, aber die Forensik. 
Während der Pandemie hatte es dort einen so katastrophalen Corona - Ausbruch gegeben, dass daraus das reinste Krankenlager wurde. Die gesunden restlichen 10 mussten umstationiert werden, und so landeten sie: Natürlich bei uns. Denn wir waren eine der wenigen geschlossenen Stationen und konnten ähnliche Bedingungen bieten. Jeder von uns war verpflichtet, ein Alarm-Telefon am Körper zu tragen. Ich fand das nicht weiter schlimm, da wir ja auch als Akutstation fungierten und manche Patienten erstmal stabilisieren mussten für die Forensik oder auch für den Haftantritt. 
Vor allem das weibliche Personal hatte aber schreckliche Angst vor der Bestimmung und probte den Aufstand. Natürlich umsonst. 

Und so hatten wir eines Tages plötzlich 10 Forensiker bei uns herumlaufen. Ich gebe zu, ich hatte auch so meine Bias, was das wohl für Typen sind. 😅 Und ob das nicht eine explosive Mischung für unsere entzügigen und wahnhaften Patienten ist. Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Tatsächlich waren diese Patienten sehr auffällig - groß, muskulös, tätowiert; ein bisschen klischeehaft fast. Sie liefen in Grüppchen über die Station oder standen mit verschränkten Armen herum. 

Interessanterweise schlugen diese ganz andere Töne gegenüber unserem manchmal schwierigen Patientenklientel an und sorgten für Ordnung. Plötzlich hörten wir Dinge wie: 
- ,,Alter, du bist einfach nur asi! Räum deinen scheiß Teller ab!"
- ,,Heute Abend steigt das Ding - so wie besprochen! Du, du und du: Spannbettlaken, Decke, Kopfkissen. Ich räum den Kram dafür in die Schmutzwäsche." 
- ,,Guten Morgen!" (<- sagte nicht mal mehr das Personal)
- ,,Wann müssen wir ins Bett?"

 

Forensische Psychologie gab's nicht im Studium. Auch die PP-Ausbildung hat kein einziges Seminar dazu angeboten. PiAs auf der Forensik hatten wir bis auf wenige Ausnahmen keine am Institut. Ich musste mich also auf eigene Kosten ein wenig weiterbilden, und da gab's einige spannende Dinge: Förderung der Opferempathie, Strategien zur Senkung der Wiederholungsrisiken, Stressintoleranz-Bearbeitung, Rückfallprophylaxe generell, Emotionsregulation, Bewältigung von Opfererfahrungen...)
Doch ich stellte fest, dass die 10 Jungs, die im Gegensatz zu unseren Patienten jeden Behandlungstermin wahrnahmen, gar nicht über sowas reden wollten.

Stattdessen ging es um: Probleme auf Station wie Langeweile, Probleme mit Behörden, Angst, Briefe zu öffnen von Verwandten, Sehnsucht nach dem Leben draußen, Perspektivlosigkeit, Schuldgefühle (aber meistens ggü den Eltern, weniger den Opfern). Als ungerecht empfundene Maßnahmen. 
Oder: höchst menschliche Probleme wie Angst vor der Dunkelheit, Schlafprobleme, sich schämen, dass jemand einen auf Toilette hören könnte.

Mir fiel bei allen eine außergewöhnliche gute Strukturierung auf, was sicher das Werk des Forensikpersonals war. Jedoch bemerkte ich auch häufig eine sehr kurze Lunte und bei einigen auch die Vorstellung, dass man Ärger an jedem auslassen darf, der mich ärgertund man sich manchmal Dinge nehmen darf, weil man selbst ja auch gefühlt irgendwo übergangen wurde. Das waren Aspekte, die in der forensisch-psychologischen Arbeit sicher interessant waren. Die Jungs kamen jeden Tag zum Gespräch. 
Manche Gespräche hatten auch etwas Komisches: Einer erschien z.B. mit einem Schwall ungeöffneter Briefe von Behörden, die er sich nicht zu öffnen traute und die ihm Panik bereiteten. 

Das ist schon interessant: Sie haben zum Teil krasseste Straftaten begangen, aber furchtbare Angst vor Mahnbescheiden. Oder was die Mutter dazu sagen würde. Darüber sprachen wir. Auch versuchten wir mal andere Bezeichnungen als Schweine für die Strafbehörden zu finden, die ja nur auf Dinge reagierten, die man selbst verzapft hatte. ,,Die hätten aber ein Auge zu drücken können!", ,,Die verdienen doch selbst genug!", ,,Ich soll immer geben, geben, geben, aber nie was bekommen. Da muss ich mir doch selbst was nehmen!" waren dann so Widerstände, die kamen. 
Aber man muss auch realistisch bei den Ansprüchen bleiben: Die Straftaten wurden im Rahmen der psychischen Erkrankung begangen, beispielsweise bei Schizophrenie. Viele konnten sich gar nicht mehr wirklich daran erinnern, was sie getan hatten und ich nehme an, vieles wurde auch verdrängt. Denn manche der Taten waren so schlimm, dass sie selbst den Täter traumatisierten - paradoxerweise. 

 

Wir hatten immer mal wieder Patienten von der Forensik; und ja, manchmal eckten sie auch an. Dass der Bereich damals so wenig gefördert wurde, fand ich sehr schade. Aber es ist auch, wie es ist: Viele haben Angst, dort zu arbeiten. Und natürlich darf man auch nicht unterschätzen, dass man mit potenziell gefährlichen Straftätern zu tun hat. Auch in unserer Forensik war es zu einem Messerangriff auf einen Pfleger gekommen, den dieser knapp überlebt hat. Das sind Dinge, die passieren können. Den Gefährlichkeitsaspekt muss man schon im Hinterkopf haben.  Insofern verständlich, dass es kein Bereich für jedermann ist. 


Bleibt gesund & haltet zusammen,

LG

Feature Foto: Rajul_Sharma/pexel.com

 

Bearbeitet von Vica

6 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Ein sehr interessanter Einblick in den Bereich der forensischen Psychiatrie - vielen Dank hierfür!

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Sehr interessanter Einblick mal wieder.

 

Ich finde es etwas komisch und auch kurzgedacht diesen Bereich derart stiefmütterlich zu behandeln. das Hört sich nach Schlüssel rum und wegwerfen an. Was sind denn die Perspektiven für diese Insassen? Gibt es überhaupt Welche? 

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Ich hatte zuerst gedacht wir reden hier von Forensik in der Art FBI / CIA 😂. Aber spannend das es das auch in Bereich der Psychologie gibt.  Ist das Im Grunde dann so, dass man rausfinden muss wieso jemand was getan hat oder kommen da einfach alle potenziell gefährliche Personen hin?

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