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Wo man niemand sein muss (letzte Selbsterfahrung)


Vica

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Die Reise zum "Ort, wo du merkst, wer du bist, weil du keiner sein musst" stand mal wieder an. Logistisch mit einem Flug zum Mars vergleichbar: Schwer erreichbar, abgelegen, ziemlich einsam. Es ist auch leichter, mit einer Waschmaschine zum Mars zu fliegen als mit Öffis dorthin zu kommen, darum gründeten wir wieder eine Fahrgemeinschaft. 

Ich war vorweg wieder etwas brummelig vor dieser Reise, weil es mir gerade in meiner Ich-hab-gekündigt-und-entdecke-mich-neu-zweimal-die-Woche-Praxis-ist-genug-der-Rest-ist-Quality-Time-Bubble ganz gut gefällt. Schon wieder einige Tage raus aus der Komfortzone empfinde ich da eher so als Störvariable.
Allerdings weiß ich auch, dass es mal wieder Zeit für mich war, Selbsterfahrung zu machen - und auch dringend nötig. 
Die Fahrt dorthin war zunächst mal spaßiger als gedacht.
Es ging auch wieder in dasselbe Hotel wie letztes Mal. Obwohl wir die Gesamtbewertung nicht nach oben reißen konnten, stand es noch. Puh! Allerdings war meine Buchung verbummelt worden. Glück gehabt, dass doch noch ein Zimmer frei war, denn in der Stadt war aufgrund eines Events alles ausgebucht (und doppelt so teuer btw!). 

Am nächsten Morgen, nach einem ordentlichen Frühstück ging es dann raus aufs Land. Nun nicht vergessen, rechtzeitig beim einzigen Bäcker im gesamten Umfeld zu bremsen. Der ist übrigens nur so mittelmäßig (80% schwere Süßteilchen), aber man kann nicht meckern, wenn es Kaffee + Sattmacherzeug gibt. In der Praxis selbst gibt's nichts und Kaffee etc. sucht man auch vergeblich. Am Haus laufen wir jedes Mal wieder versehentlich vorbei, weil es ein ehemaliges Wohnhaus ist und auch entsprechend schwierig zu identifizieren. 


Drinnen kommt sofort sowas wie Wohnhaus-Gefühl auf: Es ist gemütlich, warm und alles einfach groß und weitläufig. Das gilt auch für die Therapieräume.
Es ist entsprechend voll, wenn wir ankommen - die Wartezimmer quillen über vor Patienten. Selbst am Samstag. Tatsächlich ist die Praxis auch völlig überrannt, auch wenn hier sehr viele PiAs arbeiten und dadurch eigentlich auch viele Termine angeboten werden können - aber es gibt einfach nicht genug Räume, auch nicht in so einem großen Haus.

Unser Raum befindet sich in einer Mansarde ganz oben, alles ist schnell herrlich vertraut. Der Supervisionsleiter ist ein ganz herrliches therapeutisches Vorbild. Ein weiser Mentor mit etwas herber Eigennote, so à la Gandalf würde ich sagen. Ich denke bei meiner therapeutischen Arbeit häufig an ihn und frage mich: "Was würde XY tun?" - lustig, dass es anderen auch so geht. 
Wir tauschen uns zunächst aus, was gibt's Neues und welche Herausforderungen und Schwierigkeiten gab es. Dann geht es ans Eingemachte. Noch zwei Biographien von 2 Teilnehmern werden vorgestellt. Die Tränen fließen im Sturzbach, sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Zuschauenden. Das Ganze wird einen Tag lang untersucht auf mögliche biographische Schwierigkeiten, die wiederum Probleme in der Arbeit mit Patienten verursachen oder einen gar selbst gefährden könnten (Intuitive Berufswahl, um sich selbst zu heilen, kann nämlich sehr hinderlich sein). Und dann wird kollektiv daran gearbeitet, auf mehrere Arten und Weisen, was mir immer sehr gut gefällt. 

Aber es ist auch unendlich anstrengend, nur mental zu arbeiten: Obwohl wir nur sitzen, sind alle viel am Essen und Trinken. Das eigentlich als Tagesvorrat angelegte Mitbringsel ist in wenigen Minuten gegessen und hält nicht mal bis zur Mittagspause.  Und dann ist es geschafft! In den Leuten arbeitet es jetzt ganz gewaltig. Viele Fragestellungen, Blickwinkel und Erarbeitetes reicher gehen wir in den Feierabend. Essen gehen ist angesagt, das haben wir uns verdient und fahren in die nächstgrößere Stadt.
Leider haben wir den Orkan etwas unterschätzt - die 3 km zum Laden schaffen wir doch nicht zu Fuß. Da leuchtet als letzte Instanz vorm Verhungern McDonalds auf - nichts wie hin. Lange nicht mehr so viel Spaß gehabt, da hinzugehen :-). 

In den nächsten Tagen kommen noch andere, ganz schöne Klopper dran:
- Suizide, entweder bei Patienten oder Eigengefährdung
- Hamsterräder, die von innen wie Karriereleitern aussehen 
- Burnout 

 

Ja, und auch die Umgebung arbeitet mit. Viele Leute im Hamsterrad haben DAS schon ewig nicht mehr gesehen:
- Das Rauschen des Orkans, wenn er fast die Dächer abdeckt
- Bäume, die sich im Wind fast umbiegen
- Das Geknister von Grashalmen und Ästen 
- Das Knarzen des Holzes an Scheunentoren
- Der Blick aus dem Fenster, der auf eine Koppellandschaft geht  
- Fehlender Empfang 
- Fehlende Möglichkeiten, seinen Gedanken zu entkommen, da keine Ablenkungen 

Nicht so einfach, sich auf alles einzulassen und wirken zu lassen - aber unendlich bereichernd. Schade, dass es die letzte Selbsterfahrung dieser Art ist. 
Es kommen noch 2, aber die sind woanders und haben ein etwas merkwürdiges Thema (Ich berichte). 

Und dann ist er da, der ersehnte Abschlusstag und es geht's endlich nach Hause, Man platzt fast vor Wiedersehensfreude. Rucksäcke packen und auf geht's ins Auto, Navi einstellen und die nächsten 2,5 Stunden auf die zum Glück komplett freie Bahn. Die Zeit vergeht wie im Flug, weil man ja so viel zu bequatschen hat, wie dieses Seminar so gelaufen ist. 

 

Nun bin ich gespannt, welche Themen bei mir noch nacharbeiten. Es hat mal wieder unendlich gut getan, diese Einheit.

Und schon ist man wieder zurück in seinem Alltag und auch in seinen Rollen :-). Nur nochmal um einige Blickwinkel bereichert.  


Bleibt gesund und haltet zusammen, 

LG :-) 

Feature Foto: James Wheeler/pexels.com

5 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Es ist wie immer ein spannender und bereichernder Einblick in die (hoffentlich) Zukunft

Dank deiner Berichte habe ich mich gegen ein reines online Studium entschieden und freue mich auf die kommenden Anteile

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Das ist etwas off-topic, aber mir kam gerade der Gedanke, als ich mir versucht habe vorzustellen, wie es mir selbst ergehen würde, wenn ich in so einer Runde dabei wäre: Wie groß ist eigentlich der Männeranteil bei euch (wenn vorhanden)?

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Am 16.1.2023 um 17:56 schrieb Markus Jung:

Das ist etwas off-topic, aber mir kam gerade der Gedanke, als ich mir versucht habe vorzustellen, wie es mir selbst ergehen würde, wenn ich in so einer Runde dabei wäre: Wie groß ist eigentlich der Männeranteil bei euch (wenn vorhanden)?


Bei uns nur einer, im Vorgängerkurs immerhin zwei, im Nachfolger-Jahrgang sind ebenfalls zwei - immer so auf 18, 19, 20 Frauen :-D. 
Drei sind schonmal eine echte Ausnahme, und was ich noch nie gesehen habe sind reine Männerjahrgänge oder welche, wo sie in der Überzahl wären. 
So in etwa ist das Verhältnis dann auch bei der Geschlechterverteilung auf der Arbeit gewesen :-D 

LG

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vor 46 Minuten schrieb Vica:

So in etwa ist das Verhältnis dann auch bei der Geschlechterverteilung auf der Arbeit gewesen


Komischerweise kommt mir das sehr bekannt vor 

Im Studium, Beruf und auch in der Fortbildung sind die Herren stark in der Unterzahl :(

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