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Bei den Kinder- und Jugendlichenpsychologen


Vica

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Mein neues Büro ist lila, pink und apfelgrün. Statt dicker Wälzer wie ICD-10, AMDP-Befunds-Hilfen und anderer Nachschlagwerke, tummeln sich im Regal jetzt "Maxi und die Gefühlshelfer" oder "Ein Dino zeigt Gefühle". Keine schweren und klobigen Testbatterien auf Persönlichkeitsstörungen, die so umfangreich sind, dass sie in Koffern herumstehen - stattdessen stehen in meinem Schrank jetzt: Mensch-ärger-dich-nicht, Dobble, Halli Galli, Lotti Karotti oder natürlich UNO.  Und anstelle 70er-Jahre-Möbelhausromantik (Bild mit Sonnenuntergang etc.) ist die Wand jetzt gesäumt von echten Kinderkunstwerken. Alles, was kleine Patientin in einer Stunde so hinterlassen. Einige davon sind sogar schon für mich. 
Das einzige, was mich hier an mein altes Büro in der Psychiatrie erinnert, ist ein PC aus der Steinzeit und Praxis-Software aus dem Urkambrium. Eine ganz nette Zeitreise - sowas hätte ich eher ins Museum verortet, aber nie gedacht, dass man sowas überhaupt noch zum Laufen kriegt. 😁

Ein Tag in der KJP startet im Nachmittag. Ganz klar, denn Kinder haben vormittags Schule oder Kindergarten. Ich habe noch keine Patienten 2x gesehen. Es sind so unglaublich viele, dass der Ablauf im Grunde mit einer Arztpraxis zu vergleichen ist - dadurch sind aktuell nur wenige Termine im Quartal für jeden möglich, aber sie helfen wohl, denn alle kommen wieder: Manche Patienten kamen in der Grundschulzeit und machen nun bald Abi. Und es ist mehr als nichts! 

Meine Software zeigt mir immerhin an, wer im Wartezimmer sitzt, so dass ich mich erst dann da hinbewege, wenn der/diejenige eingetroffen ist. Die Zeit davor verbringe ich damit, in gefühlter 1,25x Geschwindigkeit die Krankenakte zu überfliegen. Was haben die Ärzte gesagt, was haben Diagnostiker herausgefunden? Oft bleibt keine Zeit, alles zu lesen - aber das muss auch nicht. Das Alter meiner neuen Patienten reicht aktuell von 0 bis 18.

Der Tag startet zum Beispiel mit einem Achtjährigen, der ADHS-Symptomatik hat. Seine Mutter kommt mit rein, wie in 80% der Fälle. Meine Vorgängerin ist noch nicht lange weg, viele wollen einfach wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ich möchte gerne auch von dem Jungen selbst hören, wie es ihm geht und welche Wünsche er hat. Die Mutter verbessert viel von dem, was er sagt. Auch mich lässt sie oft nicht aussprechen. Ich habe den Eindruck, er kann das nicht so frei sagen, wenn Mama dabei ist. Die Mutter konkretisiert ihre Wünsche zu dem, was fast alle Eltern hier sagen: Sie will exakt wissen, was sie tun muss. Auffallend ist, wie offen und toll konzentriert er mit mir Das verrückte Labyrinth spielt, nachdem die Mutter sich nach 20 Minuten ins Wartezimmer gesetzt hat. 


Der nächste kleine Patient wird ebenfalls von der Mutter begleitet. Er hat eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und hat zusätzlich Ergotherapie. Für die Verordnung bedarf es nun einmal im Quartal meine Beurteilung. Er habe wieder abgebaut und schreibe schlechter. Ich lasse ihn ein paar Sätze schreiben und kann nicht viel Pathologisches finden. Auch die Zeugnisnote ist toll, das Schriftbild findet sich nicht in der Kritik wieder. Schnell stellt sich heraus, dass die Mutter sich eher von der Lehrerin persönlich angegriffen fühlt. Und auch hier wurden die zuvor vereinbarten Schreibübungen nicht weitergeführt. Ich empfehle einen Schreiblernstift, wie ich ihn kenne, den ich google und natürlich weiter zu üben. Statt langweilige Wörter wie "Schule" oder "Haus", spricht nichts dagegen, eine Reihe "Darth Vader", "Lego" oder "Mario und Luigi" zu schreiben. Dafür kann man sich direkt begeistern. 

Als nächstes kommt eine Dreijährige. Die kann man natürlich nicht befragen, sondern beobachten. Also gehen wir in eines der Spielzimmer. Da Autismus vermutet wurde, achte ich besonders auf die Interaktion, kann sie in andere Rollen schlüpfen, Objektpermanenz, Theory of Mind etc. Alles Paletti an der Stelle, aber um die Mutter mache ich mir Sorgen. Sie ist total am Anschlag, darum führen wir ein entlastendes Erwachsenen-Gespräch.  

Die nächsten zwei Patienten sind Geschwister, die in die Stunde kommen. Sie haben richtig krasse Angst vor Gespenstern, Monstern, Vampiren, Hexen und alles weitere, was nachts unterm Bett lauern könnte. Das Verhalten ist relativ neu. Sowas passiert schnell, wenn gerade besondere Phasen sind: Trennung, Schulübertritt, Freunde ziehen weg, Todesfälle. Wir machen eine Malstunde. Die Aufgabe ist, die Monster, die so auftauchen, mal zu malen. Dann verpassen wir  denen eine Geschichte. Warum ist die Hexe eigentlich so hässlich und so gemein, dass sie nachts Kinder erschreckt? Hat die kein Zuhause? Die muss ja ganz schön einsam sein. Während wir den Spukgestalten so Biographien verleihen, entsteht eine Menge Spaß. Wir stellen fest, dass die Monster gar nicht so anders sind. Aber zur Sicherheit gestalten wir noch eine Helfer-Figur für jeden, damit die Monster demnächst lieber zu Hause bleiben. Als Hausaufgabe sollen sich die zwei noch die Monster-AG + Uni anschauen. 

Dann kommt eine Jugendliche mit Verdacht auf Borderline. Stattdessen ist sie allerdings selektiv mutistisch und sagt kein Wort - außer über das Thema Anakin Skywalker, da wird sie lebendig und erzählt. Gut, dass ich da etwas mitreden kann. Im Hinterkopf laufen die Hypothesen heiß: Warum ausgerechnet diese Figur? Ich frage mich, ob die Themen vielleicht Unterschätzt werden, verborgene Talente, nicht gesehen werden oder anders als die anderen sein könnten. Aber oft ist es auch der Wunsch nach einem Beschützer oder selbst stärker zu sein als andere. Den Anakin können wir jedenfalls als Avatar verwenden: Wie fühlt der sich so? Ist er eher traurig und was für Struggles hat er so? Auch Musik können wir hier zum Einsatz bringen, wenn Kinder stumm sind. Bist du heute ein hohes F? Ein mittleres C? Oder ein tiefes A? Sie will nichts Negatives besprechen in der ersten Stunde. Also widmen wir uns schnell ihren Stärken, die wir auf einem Poster festhalten. Dazu schlüpfe ich schnell in Anakins Rolle. 

Als nächstes steht eine Telefonsprechstunde auf dem Programm. Eine Lehrerin meldet sich bei mir, die meine Vorgängerin terminiert hatte. Leider kenne ich den Fall dazu noch nicht, aber ich führe das Gespräch, da es sich anders nicht einrichten lässt. Schnell wird klar: Das besteht echte Wut auf die Mutter. Das gesamte Kollegium sieht das so. Ratlos lese ich in den Akten mit und gebe zu bedenken, dass solche Fights auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden, oft auch unbewusst. Ich reime mir schnell was aus der systemischen Paartherapie zusammen: Welchen Kompromiss wäre man bereit, einzugehen? Schon für das Kind? Was wäre sie maximal bereit zu ertragen, was am wenigsten? Zähneknirchend lässt sie sich drauf ein, ist aber sichtlich nicht begeistert. 

Zum Abschluss muss ich zum Konsil ins Krankenhaus fahren. Hier liegt eine Jugendliche, die suizidal geworden war. Wir machen ein entaktualisierendes Gespräch über das, was vorgefallen ist. Wiederum bastele ich mit ihr ein Stärken-Poster und einen Notfallplan, wenn mal wieder solche Gedanken kommen. Die Eltern sind leider nicht gekommen - es wäre wichtig gewesen, sie auch zu instruieren! 

Zwischen den Patienten bleiben mir exakt 15 Minuten zum Dokumentieren + mich in den nächsten Patienten einlesen. Das mache ich dann mit 2,0x 😄 Den Rest sollen sie mir überhaupt lieber selbst erzählen. 

So sehen sie aus, die neuen Nachmittage, und ich merke, dass ich gerade ganz schön viel dazulerne, was auch einer der Hauptgründe war, so einen Job zu machen. Die Arbeit mit Kindern ist deutlich abwechslungsreicher, erfordert viel Kreativität. Das Schöne an Kindern ist, dass sie noch nicht so verfestigte Verhaltensmuster haben. Ein richtiger Knackpunkt ist die Zusammenarbeit mit den Eltern. Denn Eigen- und Fremdurteil zwischen Kids und Eltern geht hier sehr stark auseinander. Was mir im Bezug auf Eltern auffällt, ist dass sie im Alltag häufig keinen mehr haben, den sie fragen können - die Großeltern kommen gerade im Bezug auf Medienkonsum nicht mehr mit, es gibt auch keine guten Freunde, Tanten, Verwandte, Ältere, die man mal fragen könnte in unterschiedlichsten Erziehungsfragen. Entsprechend hoch ist die Verunsicherung, aber auch die Pathologisierung. Und eine unfassbare Erschöpfung seitens der Eltern fällt mir auf, die oft Mehrfachrollen auskleiden. 
Schnelles Switchen zwischen den Störungsbildern ist ebenfalls gefragt, man hat keine Zeit, zwischendurch mal eben lange nachzuschauen. Wie gut, dass mir da der Erwachsenen-PP sehr hilft. 

Bleibt gesund und haltet zusammen,
LG

Feature Foto: 
Juan Pablo-Serrano-Arenas/pexel.com 
 

Bearbeitet von Vica

7 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Liest sich sehr spannend. Und du machst einen superroutinierten Eindruck auf mich. 👍

 

Meine Erfahrung aus 6 Jahren elterngeleitetem Waldkindergarten: Das Problem sind seltener die Kinder und viel mehr die Eltern. 😉

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vor 11 Stunden schrieb unrockbar:

Welche Mehrfachrollen bei den Eltern meinst du genau? Aus Interesse 🙂

 

 

 

Danke für Deinen Bericht, ich hätte stundenlang weiterlesen können.

Und habe mich auch gefragt, ob hier oder da eher die Eltern auf die Couch gehören 🤫 

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Ganz schön viel los an einem Tag. Und dann auch noch zack zack von einem Krankheitsbild zum nächsten.

Am besten gefallen haben mir die "Lebensläufe" für die Monster unter dem Bett und auch mal andere Sachen schreiben wie "Schule" oder "Haus" :D 

Sehr schöne und - aus Laiensicht - sicherlich sehr hilfreiche Ansätze. Lernt man solche Methoden in der Ausbildung oder ist man da auf sich selbst gestellt und beginnt im Praxisalltag mit Improvisieren und Freestyle?

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Mit "Ein Dino zeigt Gefühle" hatte ich ein ganz wundervolles Erlebnis mit einem meiner ersten Bezugskinder im ersten Job in der stationären Kinder- und Jugendhilfe:

 

Wir hatten die Gefühlsuhr, auf dem Dinos mit den unterschiedlichsten Gefühlen zu finden sind, gebastelt und zum Gute Nacht sagen am Abend wenn ich im Dienst war habe zuerst ich die Uhr auf den Dino gestellt der dazu gepasst hat wie ich mich fühle und dann das Mädchen gefragt. Sie hat mehrere Wochen lang immer den neutralen Dino gewählt und "gut" geantwortet. Und ich blieb dabei die unterschiedlichsten Gefühle / Stimmungen darzustellen und zu erklären wie es dazu gekommen ist dass ich mich so fühle.

 

Nach einer wirklich langen Zeit des Anwendens dieser Gefühlsuhr kam auf einmal an einem Abend anstatt dem "gut" ein "ich fühle mich heute bockig" in Kombination mit dem Bericht von einem Streit mit ihren Schwestern und was dieser in ihr ausgelöst hat.

 

Das war ein wirklich beeindruckender Moment ☺️

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Hallo Vica,

 

deine Erlebnisse mit Kindern und Jugendlichen hören sich wirklich sehr spannend an. Auch die Vielzahl von (komplexen) Krankheitsbildern sowie dein farbenfrohes Büro verdeutlichen, wie sinnvoll deine Arbeit ist. Durch spielerische Herangehensweise kann man Kinder und Jugendliche dazu bringen, sich zu öffnen. Da ich ebenfalls in meiner Berufspraxis mit den unterschiedlichsten Krankheitsbildern und Beeinträchtigungen sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen konfrontiert bin, helfen mir manchmal die Karten der "Teilhabekiste" weiter. Kennst du das? Die Karten sind nach unterschiedlichen Lebensbereichen (z.B. Schule / Bildung, meine Familie und ich, meine Gefühle und ich, etc.) sortiert. Auch für die Zusammenarbeit mit Eltern eignet sich die Teilbabekiste gut. In der Praxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass dadurch auch ein besseres Verständnis für die Situation von Kindern /Jugendlichen erzielt werden kann. Dennoch stelle auch ich immer wieder fest, dass viele Eltern mit den Mehrfachrollen (durch eigene Berufstätigkeit, Stress und diversen Belastungssituationen im Alltag sowie der Erkrankung und der damit verbundenen Sorgen um das Kind, Verunsicherung, etc.) überfordert sind. Auch fehlt ein verässlicher Ansprechpartner im Alltag. Ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber bei uns im Landkreis fehlen spezifische Entlastungsangebote für Eltern in Form eines Erfahrungsaustausches. Dies könnte jedoch hilfreich für die Eltern sein. Wünsche dir noch viel Erfolg!

 

Viele Grüße 

 

Byana 

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super spannender Beitrag, vielen Dank!

Was mich interessieren würde: Wie viele Patiententermine hast du täglich? Wann endet dein Arbeitstag, wenn du erst am Nachmittag beginnst? :)

Überrascht hat mich, dass es möglich ist, die Patiententermine über das Quartal zu verteilen (ich dachte unwissenderweise, wöchentliche Termine seien vorgegeben, abgesehen vom Ausschleichen der Therapie gegen Therapieende oder Unterbrechungen durch Urlaub, Krankheit etc.).

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